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Grass, Guenter

Grass, Guenter

Titel: Grass, Guenter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Grimms Woerter
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Boll, der einen längeren Text im Herbst achtundfünfzig als »Brief an
einen jungen Katholiken« den Werkheften katholischer Laien zum Druck gab. Darin
sprach sich sein Zorn über die Amtskirche und deren beflissene Verquickung mit
der sich christlich nennenden Partei aus.
    Viel
später, als ich mit ihm und der Journalistin Carola Stern eine Zeitschrift
herausgab, die ständig in Geldnot war, bat ich Boll, mir aufzuzählen, welche Buchmanuskripte er in seine alte,
mittlerweile ausgediente Remington getippt habe. Sein antwortender Brief und
die Schreibmaschine, die er gleichfalls schickte, wurden Modell, als ich sie
für eine Lithographie porträtierte, die später, von ihm und mir signiert, in
hoher Auflage genügend Geld einbrachte, mit dem der Fortbestand unserer
Zeitschrift »L 80« für weitere zwei Jahre gesichert werden konnte; sie sprach
sich für demokratischen Sozialismus aus.
    Aus
Heinrich Bolls Brief nenne ich mehrere
Titel, nicht nur, weil in ihnen das B dominiert: »Das Brot der frühen Jahre« -
»Billard um halbzehn« - Die verlorene Ehre der Katharina Blum« - »Fürsorgliche
Belagerung«.
     
    Der
Brief an sich, auf den ich nun wieder komme, ist im zweiten Band des
Wörterbuchs zu finden. Jacob Grimm führt ihn im einleitenden Artikel als
versiegelte förmliche Urkunde ein, belegt mit einem Zitat von Goethe, das zur
vollen Befriedigung Jacobs, der in Sachen Zitate pingelig sein konnte, der
Gymnasiallehrer Ludwig Klee exzerpiert hatte: »doch über ihre treue verlangt
nicht brief und siegel«.
    Dem
folgt der Brief als Befehl, wie er bei Luther zu finden ist: »gefellet es dem
könige, so gebe er mir brieve an die landpfleger jenseit des wassers, das sie
mich hinüber geleiten«.
    Und
aus epistola, gotisch aipistaulein, wird in Bibeldeutsch: »da der könig Israel
den brief las, zureisz er seine kleider«.
    Danach
ein Füllhorn Zitate, die den Brief zum Gegenstand haben, schließlich solche,
nach denen er als »ein brief nadeln« und »ein brief tabak« anderen Bedürfnissen
dient.
    In
der Börsensprache jedoch, das fand bereits Jacob heraus, heißt Brief
»angebotnes papier«. Man denke an Anleihen, Bundesschatzbriefe,
Schuldverschreibungen, aber auch an diverse Zertifikate, mithin an
Schwindelpapiere, deren verbriefte Werte sich jüngst wie Asche im Wind
verflüchtigt haben; oder sie faulen in sogenannten Bad Banks vor sich hin als
Hinterlassenschaft von Lehman Brothers und anderer hochwerter Betrüger.
    Als
ich Heinrich Bolls Schreibmaschine und Brief porträtierte, zeichnete ich mit
dem Lithostift eine Sonnenblume und eine Schere dazu, von der ich behauptete,
sie sei zu fürchten. Denn man kann Geschriebenes, wie es die Zensur nicht nur
zu Zeiten der Brüder Grimm handhabte, mit der Schere verkürzen. Auch unbefugt
Briefe zu öffnen war und ist üblich. Aus Gründen der Sicherheit oder zwecks
innerbetrieblicher Kontrolle wird bei Bedarf der E-Mail-Verkehr überwacht. Man
kann Briefwechsel verbieten, Briefe, wie Bettine es tat, erfinden, Kettenbriefe
in Umlauf bringen. Der hinter den Spiegel gesteckte Brief ist redensartlich
geworden.
    Beflissen,
nichts auszulassen, werden die Brüder, denn Wilhelm hilft mit, fündig: zum
»ablaszbrief«, der ihnen später als Stichwort im ersten Wörterbuchband Ärger
bereiten wird, kommt der »mahnbrief«, der »adelsbrief«, von dem sich der
mindere Briefadel ableitet. Er steht vorm »bettelbrief, drohbrief, frachtbrief,
lehrbrief, Schuldbrief«. Nichts kann den mit vielen Zitaten gefeierten
»liebesbrief« ersetzen. Manch unnützes Geschenk eignet sich als
Briefbeschwerer. Vor gefälschten Briefen ist niemand sicher. Briefromane kamen
in Mode. Das Briefgeheimnis jedoch war schon immer Legende und ist mittlerweile
nichtig. Mit dem Briefträger zu plaudern ist ein Bedürfnis vereinsamter
Witwen. Und als mir während der Lesung der »Plebejer« im Theater am
Schiffbauerdamm aus der Künstlergarderobe meine Brieftasche gestohlen wurde, in
der sich die Fotos aller acht Kinder und meiner schönbrüstigen Ute befanden,
begann eine Geschichte, die auf anderem Blatt steht...
    Als
aber die Brüder Grimm sich keine Briefe mehr schreiben mußten, weil sie nun
Seit an Seit vor prallvollen Zettelkästen hocken durften, fanden sie auf den
Belegzetteln des fleißig exzerpierenden Gymnasiallehrers Klee den Beweis, daß
man, wie Goethe es tat, den Brief auch als Adverb nutzen könne. Schrieb jener
doch an Zelter: »vielleicht vernimmst du brieflich lange nichts von mir.«

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