Grass, Guenter
er seinem Bruder, vielmehr er sieht ihn und
ist entsetzt, steht Wilhelm doch am Rand eines Wassers, das als eines der
vielen Abläufe der Spree den Tiergarten kanalisiert und hier und dort überbrückt
ist.
Dicht,
zu dicht am Wasser steht er. Ein halber Schritt wäre zu viel. Es schaudert
Jacob: vermutlich lauern tief unten Schlingpflanzen. Jüngst war an anderer
Stelle ein Kind ertrunken. Dunkel und kaum bewegt ist das Wasser, auf das der
Bruder den Blick heftet. Und verdunkelt mögen seine
Gedanken
sein, bedrückt ihn doch seit geraumer Zeit etwas, das die Arzte Depression
nennen; ein Fremdling, der nicht ins Wörterbuch finden darf.
Aber
Jacob weiß deutschlautende Entsprechungen, mit denen er den Bruder verlocken
will, den Blick vom Wasser abzuziehen. Er sagt, »nennen wir es wehmut. auch
sind trübsinn und Schwermut treffender und schöner vom klang her als alles, was
die ärzte zu sagen wissen.«
Er
versucht es noch einmal, indem er Wörter auf Leid bildet: leidgebeugt,
leidtragend, leidvoll.
Endlich
wendet sich Wilhelm vom Wasser ab: »Wie du siehst, Bruder, hat mich jene Frau
mit Schleiern verhängt, die einst Meister Dürer ins Bild gebracht hat. Sie wird
Melencolia geheißen, und ich frage mich, ob wir sie, wenn es soweit ist, dem
Buchstaben M einverleiben sollen. Aber eigentlich kann, will, mag ich nicht
mehr.«
Als
aber der Verleger Hirzel, weil besorgt wegen der nur schleppend in Leipzig
eintreffenden Lieferungen zum Buchstaben D, in einem Brief Wilhelm vorschlägt,
seine Arbeit an den Bruder zu delegieren, bekommt er Antwort von einem
zutiefst Verletzten: »Das heißt mit anderen Worten, er solle daran ändern,
bessern, streichen und Zusätze machen...«
Erst
gegen Schluß des Briefes, der sich in jede Richtung empfindlich zeigt, ist
Wilhelm sicher, daß der Bruder » gar nicht geneigt ist, solche Überarbeitung zu
übernehmen. Hat er aber die Absicht, das Wörterbuch allein fortzuführen, so ist
es seine Sache, mir deshalb Anträge zu machen.«
Doch
nicht sein Bruder, der Tod setzte den Schlußpunkt. Wilhelm näherte sich dem
Stichwort Durst, als es geschah. Noch aber saß er über der Lieferung zu durch,
die mit durchackern beginnt.
Zuvor
hätte er stellvertretend für Tod den plattdeutsch gebräuchlichen Ausdruck Dod würdigen
können, entschied sich aber, den Dote einzurücken, nämlich »die person die
jemand aus der taufe hebt, den gevatter, die gevatterin...«
Schon
in der Sage spricht Laurin: »er wart getoufet ja, her Dietrich wart do sin
tote«. Zudem hätte Wilhelm getrost aus einem seiner gesammelten Märchen, »Der
Gevatter Tod«, zitieren können. Darin schlägt ein armer Mann zuerst Gott, dann
den Teufel als Taufpaten für sein dreizehntes Kind aus, um dann den Tod als
Gevatter oder Dote zu erwählen; eine Mär, an deren Ende selbst dem Täufling,
der zum berühmten Arzt wird, kein heilendes Kraut mehr gewachsen ist.
Um
diese Zeit starben viele: lange nach Ferdinand, dem Sorgenkind der Familie,
das immerhin in frühen Jahren Wilhelm auf Kleists »Prinz von Homburg«
aufmerksam gemacht hatte, starb der Bruder Karl.
Und
im Winter neunundfünfzig ging hochbetagt Bettine von Arnim davon. Sie war
während vieler Jahre den Grimms ferngeblieben, was besonders Wilhelm schmerzte;
nur sein Sohn Herman stand Gisela nah, einer der Arnimschen Töchter.
Im
Mai entfiel Alexander von Humboldt annähernd neunzigjährig die Feder, nachdem
er viel, aber längst nicht alles von dem, was ihm auf Reisen neu und erregend
gewesen war, zu Papier gebracht hatte.
Und
während in London endlich Darwins Buch »Über die Entstehung der Arten«
erschien, das eine neue Sicht auf jegliche Kreatur eröffnete und deshalb die
fromme Christenheit erschütterte, ging es in Wien mit dem Fürsten Metternich
zu Ende, unter dessen ganz Europa erdrückender Politik viele nach Freiheit
hungernde Poeten, aber auch biedere Patrioten, nicht zuletzt der Buchdruck und
mit ihm das Verlagswesen hatten leiden müssen.
Kein
Ende nehmen wollten das Sterben und die nachfolgende Trauer. Denn während noch
die erst kürzlich geschlossene Ehe zwischen Wilhelms Sohn Herman und Bettines
Tochter Gisela ihren eigensinnigen Verlauf nahm - Jacob schwieg dazu -, starben
fernab österreichische und italienische Soldaten, weshalb Preußen mobilisierte
und Wilhelms Sohn Rudolf einberufen wurde, worauf dessen kränkelnder und immer
wieder von düsteren Stimmungen verschatteter Vater des Todes Nähe übersah und
munter, als gelte es
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