Grave Mercy Die Novizin des Todes
Dich an das Leben bei Hof. Ich baue darauf, dass Deine Ausbildung im Kloster Dir gute Dienste leistet.
Schwester Vereda wirft täglich ihre Knochen in die Flammen und sucht nach Weisung, aber bisher hat sie nichts gesehen. Wenn sie es tut, werde ich Dir eine Nachricht schicken. Wenn Du jedoch Ihm Herz und Augen öffnest, wird Er zweifellos Deine Hand führen.
Erinnere Dich, dass Du auch unser Auge und Ohr am Hof bist. Berichte mir alles, was Du in Erfahrung bringst, ganz gleich, wie unwichtig es Dir erscheinen mag.
Wir haben zusätzlich zu Gewändern und Putz einen kleinen Koffer mit Werkzeugen und Vorräten geschickt, die Du in Deinem Dienst an Mortain benötigen wirst. Vanth trägt den Schlüssel.
Dein in Mortain
Äbtissin Etienne de Froissard
Ich zerknülle den Brief und werfe ihn wutentbrannt ins Feuer. Das sind nicht die Anweisungen, auf die ich gehofft habe. Warten, warten. Immerzu nur warten. Hätten sie uns gelehrt zu warten, wie sie uns gelehrt haben zu töten, wäre ich vielleicht besser darin.
Seufzend greife ich nach dem zweiten Brief. Er kommt von Annith.
Liebste Schwester,
ich würde lügen, wenn ich nicht zugäbe, wie neidisch ich auf all Deinen neuen Putz war. Die ganze Abtei hat gestickt und genäht und die Gewänder nach Schwester Beatriz’ genauen Maßen umgearbeitet, damit sie Dir passen und dem Kloster zur Ehre gereichen. Obwohl ich nicht weiß, wie sie auf das Kloster zurückfallen soll, wo doch Deine Verbindung zu uns ein Geheimnis ist. Schwester Beatriz hat mir nur aufgetragen, schneller zu sticken, wenn ich sie darauf hinwies.
Ich platze fast vor Neugier zu hören, wie der herzogliche Hof ist, wie viele Du seit Deinem Aufbruch getötet hast und was Du sonst alles erlebst. Ich denke, die ehrwürdige Mutter hat den Verdacht, dass Deine Mission mich ernsthaft verärgert hat, da sie mir Arbeiten in unmittelbarer Nähe von Schwester Arnette zugewiesen hat, damit ich mich nicht zurückgesetzt fühle. Natürlich nutzt das gar nichts.
Schreibe mir, wenn Du kannst, damit ich vor Augen habe, wie es Dir ergeht, oder aber ich werde gewiss vor Langeweile sterben. Immer noch keine Nachricht von Sybella.
Deine Schwester in Mortain
Annith
Als ich den Brief gelesen habe, befällt mich schmerzhaftes Heimweh, nicht nach dem Kloster, sondern nach Annith und ihrem scharfen, klugen Geist. Ich würde liebend gern alles vor ihr ausbreiten, was ich erfahren habe, und sehen, was sie davon hält. Kurz erwäge ich, alles aufzuschreiben, dann wird mir klar, dass Vanth unmöglich all die Seiten tragen könnte, die dazu notwendig wären.
Stattdessen eile ich zum Käfig und sehe, dass die Krähe eine kleine Tasche am linken Bein trägt. Ich mustere den Vogel argwöhnisch, greife in den Käfig und gurre mit besänftigender Stimme – dann reiße ich die Hand zurück, als er mit seinem scharfen Schnabel danach hackt.
»Lass das«, schelte ich. »Das ist mein Schlüssel, nicht deiner.« Ich versuche es noch einmal, diesmal schneller, und zupfe das Päckchen von seinem Knöchel. Sein bösartiger Schnabel verfehlt meine Finger nur knapp und hackt verdrossen gegen den Käfig. »Vagabund«, tadele ich ihn.
Ich wickele das Päckchen aus, und ein kleiner goldener Schlüssel an einer Kette fällt in meine Hand. Als Nächstes eile ich zu dem Köfferchen und schiebe den Schlüssel ins Schloss. Ich hebe den Deckel an und unterdrücke ein Jauchzen. Der Koffer enthält Stichwaffen aller Größen: einen großen Hirschfänger, den ich im Rücken tragen kann, einen kleinen, leicht zu verbergenden Dolch, ein langes Stilett, das ich in den Bund meines Strumpfs schieben kann, ein nadelähnliches Messer, um im Genick unter den Schädel zu dringen, und etliche Lederscheiden, damit ich alle Waffen bei mir tragen kann. In dem Köfferchen befinden sich auch ein schlichter Würgedraht sowie einer, der in einem eleganten Armband versteckt ist. Schwester Arnette hat außerdem eine kleine Armbrust hineingelegt, nicht größer als die Innenfläche meiner Hand. Die Bolzen sind allesamt fein angespitzt.
Der scharfe metallische Geruch meiner Waffen ist willkommener als das feinste Parfüm.
Aber der Koffer ist tief und birgt ein zweites Fach. Als ich den oberen Einsatz abnehme, höre ich das schwache Klimpern von gläsernen Phiolen. Ich ergreife eine kleine Flasche, deren Inhalt die Farbe des kalten Winterhimmels hat. Mortains Liebkosung , ein überaus angenehmes, barmherziges Gift, das seine Opfer mit einem Gefühl der Euphorie und des
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