Graveminder
als sei sie von einer Generation an die nächste weitergegeben worden. Der Messingriegel war eingedrückt und zerkratzt, und mehrere Stellen schienen im Lauf der Jahre Wasserschäden abbekommen zu haben. Byron kniete vor der Truhe nieder, hob den Riegel an und öffnete den Deckel.
In der Kiste befand sich eine alte Arzttasche aus schwarzem Leder. Daneben lag eine kleine Holzschachtel, die beim Öffnen zwei alte Derringer-Pistolen enthüllte. Mehrere gefährlich aussehende Messer steckten in Futteralen.
»Hm …«, machte Byron.
Er öffnete eine Metallkassette, in der sich Namensschilder für verschiedene Krankenhäuser befanden. Als er sie durchging, entdeckte er eine Notiz: Frag Chris, wenn du neue brauchst.
Vorsichtig ließ sich Rebekkah neben Byron auf den Boden nieder. »Das verstehe ich nicht.«
»Für den Fall, dass ich einen Leichnam holen muss, der nach Hause zurück soll, aber keine Zeit für Papierkram habe«, erklärte Byron ihr. »Es gibt auch andere Methoden.«
Dann erzählte er ihr von der Frau, der er im Land der Toten begegnet war, Alicia, von den Fläschchen, die sie ihm gegeben hatte und die einen vorübergehenden Scheintod verursachten. Während er sprach, überlief Rebekkah ein Zittern.
Wenn sie Daisha nicht fanden, würden Menschen sterben. Wenn Bewohner von Claysville anderswo starben und sich niemand um sie kümmerte, würden sie aufwachen – und weitere Menschen würden sterben. Eine erdrückende Bürde von Aufgaben, bei denen sie versagen konnte, lastete schwer auf ihren Schultern. Sie musste dafür sorgen, dass die Toten in ihren Gräbern blieben, und wenn sie aufwachten, musste sie sie aufhalten. Menschen, die keine Ahnung von dem Vertrag hatten, Menschen, die nicht einmal wussten, dass es Claysville gab, Menschen, die keine Vorstellung davon hatten, dass Tote tatsächlich aufwachen konnten. Sie alle waren abhängig davon, dass sie nicht scheiterte.
Und ich bin abhängig von Byron, dachte sie.
Byron war der einzige Mensch auf der ganzen Welt, dem sie vertrauen konnte. Er war der einzige Mann, den sie je geliebt hatte. Das war die Wahrheit, die sie nicht aussprechen durfte: Sie liebte ihn. Innerhalb weniger, kurzer – wenn auch intensiver – Tage waren die Jahre, in denen sie vor ihm weggelaufen war, ausgelöscht worden. Sie war sich nicht sicher, ob für diesen Moment Lachen oder Weinen angemessener war: Endlich stellte sie sich der Tatsache, dass sie Byron Montgomery schon ihr ganzes Leben lang liebte.
Weil wir sind, was wir sind, kam es ihr in den Sinn.
Da wurde ihr klar, dass Byron sie eindringlich ansah und wartete – auf sie wartete. Er wartete mittlerweile schon fast zehn Jahre auf sie. »Es tut mir leid«, flüsterte sie.
Er schüttelte den Kopf. »Wie haben unsere Vorgänger das nur geschafft?«
»Genauso, wie wir es schaffen werden.« Rebekkah drückte seine Hand.
Beide musterten die Arzttasche und sahen dann wieder einander an. Sichtlich beklommen öffnete Byron sie und blickte hinein. In der Tasche befanden sich eine alte Schachtel mit Spritzen, Verbände, diverse Antibiotika, sterile Gaze, ein kleines Skalpell, antibiotische Salbe, Peroxid und unzählige weitere Bestandteile eines Erste-Hilfe-Verbandskastens. Nicht alles war modern, aber das meiste.
In der Arzttasche lag auch ein Umschlag. Sie hob ihn hoch.
»Mach ihn auf!«, verlangte Byron.
Sie tat es, zog ein kleines Blatt Papier hervor, entfaltete es und las die Worte laut vor: » Du kannst Alicia auch mit medizinischer Ausrüstung bezahlen. Ergibt das einen Sinn für dich?«
»Ja«, antwortete er.
Rebekkah drehte das Papier um. »Auf der Rückseite steht: Mit den Spritzen kannst du sie aufhalten. Für Notfälle aufbewahren. «
Er schnaubte. »Was soll das denn heißen? Sind tote Menschen, die uns umbringen wollen, etwa kein Notfall?«
Sie hob die Schultern. »Ich habe nicht die geringste Ahnung.«
Byron nahm das Blatt und starrte es an. Er hob es ins Licht und betrachtete es genau. Dabei erkannte Rebekkah ein schwaches Wasserzeichen.
»Das ist nicht Dads Handschrift«, erklärte Byron. »Wer mag das geschrieben haben? Sein Großvater? Wer käme sonst noch infrage?«
Er hielt Rebekkah das Papier hin, und sie nahm es. Sie faltete es wieder zusammen und steckte es in den Umschlag zurück.
Byron griff in die Truhe und hob einen letzten Gegenstand heraus: eine Fächermappe mit der Aufschrift MISTER D. Darin befanden sich zwei einfache braune Kladden, Briefe, Zeitungsausschnitte und einige
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