Gray Kiss (German Edition)
die seltsamen Augen. „Lass es mich probieren. Lass mich …“
Zack!
Ich stehe auf der Plattform und warte auf mein Schicksal. Die Wochen, die ich in diesem kleinen, stinkenden Loch verbracht habe, haben mich darauf vorbereitet. Trotzdem fühlen sich meine Beine schwach an und drohen, jederzeit nachzugeben.
Ich habe Angst zu sterben. Große Angst.
Unterhalb haben sich viele Dutzend Menschen versammelt, um meiner Hinrichtung beizuwohnen. Einige sehen mit grimmiger Miene zu mir herauf, andere mit erfreuter. In ihren Augen widerfährt mir endlich Gerechtigkeit. Jemand hat diesem Monster ein Ende bereitet.
Vielleicht haben sie recht.
„Hast du noch etwas zu sagen?“, fragt mich der Priester und presst sich die in Leder eingeschlagene Bibel fest gegen die Brust.
„Nein“, murmele ich.
„Möchtest du von deinen Sünden freigesprochen werden?“
„Nein.“
„Aber im Namen Gottes …“
„Ich glaube nicht an Gott. Und jetzt hau ab und lass mich endlich sterben.“
Ich erwarte Empörung angesichts meiner lästerlichen Worte, auch wenn ich die Wahrheit sage. Mein Bruder war es, der sich in Zeiten der Not an die Religion klammerte. Nicht ich.
Ich entdecke einen Mann in der Menge, den ich erst vor zwei Monaten kennengelernt habe. Einen, der mir Lügen erzählte und leere Versprechungen machte. Ich hasse ihn beinahe mehr, als ich Kara hasse.
„Lass mich dir noch eine einzige Frage stellen, um deines Vaters willen“, bat der Priester. Ich schaue wieder ihn an - denn mein Vater, das ist der Mann, den ich gerade ansah. „Du hast einer Sache zugestimmt, die er vorgeschlagen hat. Bist du immer noch dafür?“
Vor zwei Monaten war ich nicht zurechnungsfähig. Ich kann mich kaum an etwas erinnern. Ich hatte gleich mehrere Flaschen Absinth getrunken, weil ich meinen Erinnerungen entfliehen und meinen Schmerz lindern wollte. Es klappte gut - zumindest, was die Erinnerungen betraf.
„Was macht das jetzt noch für einen Unterschied?“
Der Henker schiebt den Priester aus dem Weg, damit er mir den Strick um den Hals legen kann. Das Seil zieht er schmerzhaft fest zu.
„Bist du immer noch dafür?“, fragt der Priester noch einmal.
„Was auch immer. Und jetzt verschwinde.“
„Deine besonderen Talente werden nun noch mehr wert sein, da sie fein geschliffener sind.“
„Fahr zur Hölle“, flüsterte ich.
Er macht ein Kreuzzeichen, um mich zu segnen, und tritt zurück.
Ich weigere mich, die Augen zu schließen. Ich starre in die Menge, die mich so sehr hasst. Die mir den Tod wünscht.
Trotz der Angst, die in meiner Kehle aufsteigt und mir den Atem raubt, denke ich genau das. Hier ist niemand, von dem ich mir Vergebung wünsche. Niemand, der sich um mich schert oder um den ich mich schere. Meine Entscheidungen haben dazu geführt, dass ich ganz allein bin, nur drei Tage nach meinem achtzehnten Geburtstag.
Ich wünsche mir nur Vergebung von James.
Er ist der Einzige, den ich vermisse.
Ich habe ihn getötet und ihn die Hölle geschickt.
Jetzt bin ich mir sicher. Trotz aller dummen Versprechen, die mir der Mann gegeben hat, der behauptet, mein Vater zu sein: Ich werde James in der Hölle Gesellschaft leisten.
Endlich betätigt der Henker den Hebel. Die Plattform unter meinen Füßen gibt nach und ich falle.
Der Tod tritt nicht schnell ein. Mein Hals bricht nicht.
Stattdessen ersticke ich langsam, während die Menge jubelt. Sie erfreut sich an meinem Schmerz und meinem Leiden, bis endlich der Tod kommt und mich holt …
Zack!
Ich wich so schnell nach hinten, dass ich über meine eigenen Füße stolperte, und landete auf den Hintern. In einiger Entfernung hörte ich Polizeisirenen. Jordan hatte also erledigt, worum ich sie gebeten hatte. Gleich wurde die Party aufgelöst.
Doch ich nahm die Geräusche kaum wahr, sah die blinkenden Blaulichter nicht.
Ich saß einfach nur auf dem Boden und starrte Bishop an.
Ich hatte gerade seine Hinrichtung erlebt. Als wäre ich er gewesen.
Diese Hoffnungslosigkeit in ihm. Diese Verzweiflung, diese Einsamkeit. Die Schande.
Er hatte sterben wollen an diesem Tag.
Und genau wie ich vorhin war auch er von den Toten zurückgekehrt.
Immer noch glänzten seine Augen in diesem kranken Weiß. Ich hatte den Engel in ihm nicht abwehren können. Ich hatte nur einen weiteren Teil von Bishops Vergangenheit gesehen. Ein weiteres Puzzleteil. Ein Eckstück, das problemlos seinen Platz fand.
„Ich kann dich gehen lassen“, sprach der Engel durch ihn und sorgte dafür, dass
Weitere Kostenlose Bücher