Gray Kiss (German Edition)
konnte.
Ich sah überall im Haus Cassandra vor mir. Vor allem, als ich die letzten Reste des chinesischen Essens entsorgte.
Auch sie hatte Geheimnisse gehabt, die sie mit niemandem teilen wollte. Dabei hätten wir ihr sonst vielleicht helfen können. Wer weiß, vielleicht war Geheimnisse haben so eine Engel-Angewohnheit.
Ich vermisste sie plötzlich richtig. Na so was.
Es war gegen sechs, draußen wurde es schon dunkel, da klopfte es plötzlich an der Haustür, und ich wurde aus meinen Erinnerungen gerissen. Vorsichtig ging ich zur Tür und spähte durch die Jalousie, um nachzusehen, wer es war.
Rote Haare. Grüne Augen. Wütendes Gesicht.
Widerwillig öffnete ich die Tür.
„Ich hasse dich wirklich“, informierte mich Jordan zur Begrüßung.
„Ja, ich find’s auch schön, dich zu sehen.“
„Du hast mein Leben ruiniert, weißt du das überhaupt? Ruiniert! Mein Vater hält mich für eine verlogene jugendliche Straftäterin, weil ich ihm nicht sagen will, wo ich war. Er hat damit gedroht, dass ich zu meiner Mutter ziehen muss! Das will ich aber auf keinen Fall. Mir gefällt es besser, wenn sie mich aus der Entfernung ignoriert.“
Sie wirkte heute so blass, dass die Sommersprossen auf ihrer Nase mehr auffielen. „Geht es dir gut?“
„Galaktisch. Mir geht es galaktisch gut, vielen Dank.“ Ihr Blick schnitt wie Laser durch meine Haut. „Und dir?“
„Super.“ Ich machte die Tür ein Stückchen weiter auf. „Willst du reinkommen?“
„Nein.“ Dann versetzte sie mir einen Stoß und rannte durch die Tür. Ich checkte die Einfahrt. Da standen das Auto meiner Mutter und Jordans Mercedes - den Sportwagen hatte ihre Mutter ihr geschenkt, soweit ich es gehört hatte. Auf der Straße war niemand. Ich schloss die Tür. „Du bist vor der Polizeiaktion gestern einfach verschwunden. Ich habe dich gar nicht mehr gesehen. Was ist aus diesem Engel geworden? Und aus den Geistern? Alles klar mit Julie?“
„Alles ist …“ Ich suchte nach dem richtigen Wort. Vergebens. „Heute ist alles schon besser, schätze ich. Julies Geist ist frei. Sie ist nicht mehr länger hier gefangen.“
Die Härte in Jordans Blick verschwand für einen kurzen Moment, und ihre Augen wurden feucht. Schnell wandte sie sich ab. „Ich habe gespürt, dass etwas passiert ist. Ich … ich habe es schon gestern Abend gemerkt, als ich nach Hause kam. Nach der Razzia. Als wäre die Stadt von einem großen Druck befreit. Deswegen bin ich hier. Ich möchte wissen, was los ist. Eigentlich wollte ich das alles vergessen, dich und deine gruseligen Freunde, sogar Stephen - aber das kann ich nicht. Und das kotzt mich an.“
Ganz eindeutig - Jordan besaß eine übersinnliche Intuition. „Fühlst du dich selbst denn jetzt auch besser?“
„Ja, total. Danke.“ Sie schaute sich um. „Wo ist denn deine Mutter?“
„Hawaii.“
„Wie praktisch.“
„Da sagt du was.“
Jordan schwieg einen Moment. Sie hatte die Arme so eng verschränkt, dass es aussah, als würde es wehtun. „Ist er jetzt total böse? Für immer?“
Ganz klar. Sie konnte nur Stephen meinen. „Keine Ahnung, wirklich nicht.“
Sie stöhnte. „Eine Lüge wäre toll gewesen.“
„Tut mir leid. Ja, ihm geht es super. Wie neu. Kein Problem mehr.“
„Du bist die schlechteste Lügnerin der Welt.“
„Ja, das höre ich immer wieder.“
„Und wo ist dein durchgeknallter Engel? Der mit den traumhaft schönen blauen Augen? Stehst du nicht mehr unter seiner Beobachtung?“ Meine Antwort schien sie nicht weiter zu interessieren, denn sie betrachtete sich im Spiegel im Flur. „Was ist das überhaupt für einer?“
„Wer? Bishop?“ Ich spielte mit einer Haarsträhne. „Ach weißt du. Im neunzehnten Jahrhundert war er ein Grabräuber und Serienmörder, der sogar kaltblütig den eigenen Bruder umbrachte. Jetzt ist er ein Todesengel mit einer Seele, die ihn in den Wahnsinn treibt, und sein Bruder ist ein Dämon, Spezialist in Sachen Rachefeldzüge und sarkastische Bemerkungen. Alles eher langweilig.“
Jordan starrte mich an. „Okay. Und ich dachte, ich hätte ein kompliziertes Liebesleben.“
„Keine Sorge, das hast du auch.“ Jetzt verschränkte auch ich die Arme vor der Brust. „Wir sollten die beiden zusammenbringen. Bishop wird von seiner Seele zerstört - und Stephen braucht eine Seele. Eine kleine Tauschaktion wäre doch eine grandiose Idee.“
Sie riss die Augen auf. „Meinst du wirklich?“
„Das war sarkastisch gemeint.“
Sie ließ die Schultern
Weitere Kostenlose Bücher