Gray Kiss (German Edition)
Delikatesse.“ Ich streife den Schmuck von ihren Handgelenken, Fingern und Hals und werfe sie in meine Leinentasche. „Was ist mit der Leiche?“
James dreht das kleine Goldkreuz an seiner Halskette. „Die nehmen wir auch mit.“
Diesen Teil hasse ich am meisten. Schmuck stehlen ist in Ordnung. Aber eine Leiche … daran kann ich mich nicht gewöhnen. „Komm, wir lassen sie hier.“
„Was?“ James runzelt die Stirn. „Du weißt doch, dass Kara wütend wird, wenn wir nicht genau das machen, was sie sagt.“
„Müssen wir immer tun, was Kara sagt?“
Schon grinst mein Bruder wieder. „Oh ja, das muss man, Kleiner. Alles, worum sie bittet, und dann bettelst du um mehr. Warum sollte es diesmal anders sein?“
„Arsch.“ Sein Kommentar verdient einen weiteren bösen Blick, auch wenn er recht hat. Ich hasste es, wenn er mich Kleiner nennt. Ich bin jetzt fünfzehn, gerade geworden. Und mein Bruder mit seinen sechzehn denkt, er hat die Weisheit mit Löffeln gefressen.
Leichen stehlen und an die medizinische Fakultät verkaufen ist das geringste Übel, das Kara uns aufträgt. Ihre Ziele werden immer böser, seit sie in diesem neuen Club ist. Sie behauptet, es verschafft ihr die Macht, die sie immer haben wollte - wenn sie das Okkulte berührt.
Ich glaube nicht an so was. Ich habe keine Zeit dafür, Märchen hinterherzujagen. Diesen Unsinn überlasse ich ihr.
Heute Nacht ist sie nicht dabei. Sie ist bei ihrer neuen Freundin und versucht, einen Geist aus dem Reich der Toten heraufzubeschwören.
Was für eine Zeitverschwendung.
Ich kriege eine Gänsehaut, sowie ich das Gesicht der toten Frau betrachte. Ich hasse Friedhöfe. Und heute Nacht ist es schlimmer als sonst.
„Stimmt was nicht?“, fragte James.
„Ich traue ihr nicht.“
„Wem? Kara? Dann sind wir schon zu zweit.“ James grinst immer noch. „Keine Sorge, Kleiner. Wir stehen das gemeinsam durch, du und ich. Bis zum Ende.“
Ich nicke, nicht mehr ganz so verunsichert. „Bis zum Ende.“
„Sie bekommt die Leiche, wir den Schmuck. Irgendwann haben wir genug zusammen, dass wir deine Augen operieren lassen können oder die beste verdammte Brille der ganzen W…“
Zack!
Bishop stand auf und taumelte nach hinten, bis er an die Wand gegenüber stieß.
„Was …“, begann er. „Was war das gerade?“
Ich konnte mich nicht bewegen. Stattdessen starrte ich ihn mit aufgerissenen Augen an. „Ich weiß nicht.“
Und das tat ich auch nicht. Wenn ich in Bishops Verstand eindrang, sah ich normalerweise mit seinen Augen - aber dabei war ich immer noch ich. Diesmal war es anders gewesen. Das war nicht ich gewesen, sondern nur Bishop - seine Gedanken, seine Gefühle, alles.
„Was hast du gesehen?“, fragte er leise.
Ich hatte keine Ahnung, wie es sich für ihn angefühlt hatte. Normalerweise bemerkte er nicht, wenn ich meine „normalen“ Spionageattacken hatte. Diesmal allerdings hatte er es mitbekommen.
„Du und Kraven …“ Meine Atmung beschleunigte sich. „Ihr wart Grabräuber. Eine Frau, ihre Leiche - ihr wolltet sie an die medizinische Hochschule verkaufen. Sie hatte auch Schmuck, den ihr versetzen wolltet. Du warst fünfzehn und deine Augen … Ich denke, du drohtest zu erblinden.“
Er wurde bleich. „Du hast meine Erinnerungen gesehen.“
Ich starrte ihn weiter ungläubig an, dann nickte ich. Wir schwiegen. Ich hörte nur meinen Herzschlag und sank zurück auf meine Fersen. Der kleine Läufer war mein einziger Schutz vor dem kalten Holzfußboden.
„Das ist eine sehr gefährliche Gabe, Samantha.“ Bishop sprach leise, doch noch nie hatte seine Stimme einen so bedrohlichen Unterton gehabt. Mich überlief ein eisiger Schauer. „Tu das nie wieder.“
„Ich wollte das nicht. Es ist einfach passiert.“ Ich schluckte und betrachtete meine Hände. Schließlich fasste ich neuen Mut. „Wer ist Kara?“
Als ich aufschaute, stand das Fenster wieder offen.
Und Bishop war weg.
Die kalte Luft strömte rein und ich fror bis auf die Knochen, obwohl mein Hungergefühl langsam verschwand.
12. KAPITEL
Ich glaube, in dieser Nacht schlief ich nicht mehr als eine Stunde. Wenn überhaupt.
Mein Gehirn machte nämlich Überstunden. Irgendwie versuchte es zu verarbeiten, was ich gesehen und erfahren hatte. Das Gute war: Nachdem ich Bishops Erinnerungen hautnah erlebt hatte, musste ich nicht mehr an Stephen denken. Und nicht mehr an Julie oder meine eigenen Probleme.
Da Bishop damals sehr schlechte Augen hatte, hatte ich nicht alles
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