Gray Kiss (German Edition)
scharf erkennen können. Aber die Kleidung, die die tote Frau trug, ihr Schmuck … Und wie Kraven angezogen war …
All das musste sehr lange her sein. Aber wie lange?
Durch diese Erinnerungsfetzen stellten sich viele neue Fragen. Doch niemand wollte mir Antworten geben.
Fest stand nur, dass Bishop und Kraven Grabräuber gewesen waren. Bishop war damals fünfzehn, sein Bruder sechzehn Jahre alt - also knapp drei Jahre vor ihrem Tod. Sie arbeiteten für jemanden mit dem Namen Kara, der sie nicht trauten - eine Frau, die sich mit Okkultismus beschäftigte. Das war kein guter Vorbote für das, was ich über ihrer beider Zukunft wusste.
Mein neues Wissen verstörte mich, dennoch begann ich deswegen nicht, Bishop zu hassen oder mich vor ihm zu fürchten. Mir war vielmehr schleierhaft, warum er diese Vergangenheit so unbedingt vor mir geheim halten wollte, dass er mir nicht einmal seinen wahren Namen sagen konnte.
Ich zwang mich aufzustehen und unter die Dusche zu gehen. Ich zog mich an und stieg die Treppe nach unten. Dort begegnete ich Cassandra. Fast erwartete ich, dass sie über Bishops nächtlichen Besuch informiert war - vielleicht besaß sie eine engelstypische Intuition oder spürte, dass ich immer noch wie elektrisiert von unserer Begegnung war.
Doch sie sah mich nur müde an. „Ich bin immer noch total geschafft.“
„Willkommen im Club der Schlaflosen“, erwiderte ich und deutete mit dem Kopf in Richtung Küchenschrank. „Da drin ist Kaffee.“
„Hilft das?“
„Wahrscheinlich nicht. Aber für eine Weile hat man zumindest den Eindruck. Meine Mutter schwört auf Kaffee, um einen langen Tag zu meistern. Ich glaube, sie ist eine der Topkundinnen bei Starbucks.“
Cassandra griff sich die Kaffeekanne und betrachtete sie verwirrt an. Schließlich nahm ich sie ihr ab und machte ihr eine Tasse Kaffee, so wie meine Mutter es gemacht hätte: mit viel Milch und Zucker.
Sie trank einen behutsamen Schluck, dann lächelte sie mich an. „Das schmeckt mir.“
„Hurra.“ Ich schmierte mir Toast mit Erdnussbutter und setzte mich an den Tisch. Der Berg Toast schaffte es, meinen Hunger etwas zu besänftigen. Dazu genehmigte ich mir Kaffee, auch wenn das nicht mein Lieblingsgetränk war. Ich musterte den Engel vorsichtig an. „Bis du heute wieder in Sachen Mission unterwegs?“
„Natürlich.“
„Die Mission der anderen oder deine eigene, supergeheime?“
Sie wurde blass. „Ich habe keine Ahnung, wovon du sprichst.“
Ich zuckte mit den Schultern. Auf keinen Fall hatte ich vor, ihr zu verraten, dass ich letztens ihre Gedanken gelesen hatte. Dann würde sie anfangen, mich auszufragen, und ich hatte keine Lust, irgendwelche Fragen zu beantworten. „Wenn du meinst.“
Es ging mich ja auch nichts an, weswegen man Cassandra wirklich hergeschickt hatte - so glaubte ich jedenfalls. Heute musste ich mich zusammenreißen. Ich musste Stephen finden. Gestern in der Mall war ich so nah dran gewesen. Ich musste ihn aufspüren, bevor er …
Ich trank einen Schluck heißen Kaffee und stürzte ihn herunter.
Wenn er jetzt die Stase durchmachte, wenn er sich in einen totalen Soziopathen verwandelte …
Dann hatte ich echt ein Problem. Ohne meine Seele war ich die Nächste, die entweder mutieren oder sterben würde.
Plötzlich zog der blonde Engel meine Aufmerksamkeit auf sich. Cassandra stand nervös neben der Spüle und hielt sich fest. Sie war sehr blass. Das war nicht die Kriegerin, die am Samstagabend Roth fertiggemacht hatte. Irgendetwas stimmte nicht mit ihr.
Ich wurde unruhig. „Alles klar bei dir?“
Orientierungslos blinzelte sie, als hätte meine Stimme sie aus ihren Gedanken gerissen. „Oh ja, mir geht’s gut. Alles gut, ja.“
„Du wirkst heute Morgen etwas abwesend.“
„Schlaf ist wichtig. Ich habe allerdings nicht genug geschlafen.“
„Ganz sicher, dass das alles ist?“
Sie kam mit ihrer Kaffeetasse rüber an den Tisch und nahm mir gegenüber Platz. „Hier ist alles so anders. Ich … Ich fühle mich anders als zu Hause. Der Schlaf ist das eine. Das Bedürfnis, etwas zu essen, ist das andere.“
„Okay.“ Langsam war ich besorgt. „Was ist los, Cassandra?“
Sie sah mich mit ihren blauen Augen an. „Gefühle. Sie sind so … verstörend.“
„Insgesamt oder deine Gefühle?“
„Meine.“ Sie schluckte. „Es ist wie ein sinnlicher Rausch. Eine Welle, die mich überrollt. Zu viel auf einmal. Ich kann das alles kaum verarbeiten.“
„Weil du ein Original-Engel bist?“
Sie
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