Gray Kiss (German Edition)
wandte ihren säuerlichen Blick von mir ab und begann, eine ihrer langen Haarsträhnen um ihren Zeigefinger zu wickeln. „Ms Forester, ich sagte Ihnen doch, das ist nicht nötig.“
„Doch, das ist es“, erwiderte die Vertrauenslehrerin ruhig.
Ich wusste, warum ich hier war. Jordan und ich waren durch dieses schreckliche Ereignis, durch Julies tragischen Tod, für immer miteinander verbunden. Sie hatte sich gefasst, spielte jetzt die Gleichgültige. Aber in ihren Augen las ich immer noch den Schmerz, den sie gestern empfunden hatte.
Ich wollte sie weiter nicht leiden können, so wie früher, und sie selbst gab mir auch überhaupt keinen Anlass dazu, irgendetwas daran zu ändern. Allerdings tat sie mir in meinem Innersten leid. Ich wusste schließlich selbst am besten, wie es sich anfühlte, die beste Freundin zu verlieren. Aber ich hatte wenigstens noch ein Fünkchen Hoffnung, dass Carly wieder auftauchen würde. Doch Julie war für immer von uns gegangen.
Ich setzte mich widerwillig auf den Stuhl neben Jordan. „Es ist wegen gestern, nehme ich an.“
„Ja.“ Ms Forester wirkte sehr ernst. „Ich halte es für eine gute Idee, mit euch beiden zusammen zu sprechen. Sofortige Trauerbegleitung ist wichtig, wenn ein enger Freund oder eine gute Freundin stirbt. Deshalb wollte ich keine Zeit verstreichen lassen und euch mitteilen, dass ich jederzeit für euch da bin.“
„Samantha war keine Freundin von Julie“, erwiderte Jordan. „Ich war ihr Freundin.“
Mr Forester sah sie an. „Aber sie war dabei, als es geschah. Das hast du selbst erzählt.“
Jordan atmete zitternd ein. „Das stimmt.“
Ich wartete darauf, dass sie mir an dem Ereignis die Schuld gab, so wie sie es gestern getan hatte. Aber da kam nichts.
Oh Mann, wie ich das hasste! Wieso mussten so grausame, brutale Dinge geschehen? Seit meinen ersten übernatürlichen Erlebnissen wartete ich im Grunde dauernd darauf, dass etwas Schlimmes passierte - aber das hier, das war echt. Ich verstand das alles nicht. Wie konnte man sich so etwas antun? Wie konnte man von jetzt auf gleich alle Hoffnung verlieren?
„Jordan hat recht, ich war nicht mit Julie befreundet“, pflichtete ich ihr bei. „Doch was geschehen ist … Ich verstehe das nicht. Warum hat sie das gemacht?“
„Ich weiß es nicht“, flüsterte Jordan. „Ich schwöre, sie war vorher nicht deprimiert. Sie hat nicht mal mehr von Colin gesprochen. Ich hätte das mit der Modelagentur nicht sagen sollen. Sie war hübsch genug, um ein Model zu sein. Aber ich wusste ja nicht mal, dass sie darauf Lust hatte!“
„Es war nicht deine Schuld“, sagte ich.
Ihre Antwort war ein vorsichtiger Blick.
„Ihr beide könnt einander beistehen“, schlug Ms Forester nickend vor. „Freunde sollten in Zeiten der Trauer zusammenhalten.“
„Wir sind keine Freunde“, erklärte ich.
„Auf keinen Fall“, fügte Jordan hinzu.
Ms Forester blätterte in der Akte, die vor ihr lag, und las eine handgeschriebene Notiz. „Samantha, du bist doch mit Carly Kessler befreundet, die vor Kurzem die Stadt verlassen hat. Nicht auf so tragische Weise wie Julie, dennoch war es ein unerwarteter Verlust für dich.“
Die Erwähnung von Carlys Namen war wie ein Schlag in die Magengrube. „Ja.“
„Versuch nicht, deine Gefühle zu unterdrücken. Lass sie zu, setz dich mit ihnen auseinander. Nur so kannst du damit zurechtkommen.“ Sie schüttelte den Kopf. „Ich wünschte, ich könnte den Jugendlichen helfen, damit sie so etwas nicht tun müssen. Seit Freitag ist das nun schon der vierte Selbstmord.“
Ich starrte sie an. „Wie bitte? Der vierte Selbstmord?“
Sie nickte grimmig. „An der Marville High gab es am Freitag drei Selbstmorde. Und in ganz Trinity weitere Fälle in der vergangenen Woche.“
Ich erinnerte mich an den Zeitungsartikel. „Das waren drei Freundinnen. Sie brachten sich gemeinsam um. Wieso?“
„Keine Ahnung. Ich weiß nur, dass keine von ihnen unter Depressionen oder Angstzuständen litt. Teenager-Selbstmorde sind derzeit ein großes Thema, aber der extreme Anstieg in unserer Stadt verwundert mich schon. Ob es äußere Faktoren waren, die sie zu diesem Schritt bewegt haben? Cybermobbing oder etwas anderes, das uns unbekannt ist? Ich will es nicht hoffen, und ich will nicht hoffen, dass ihnen weitere folgen werden.“
„Ja, das hoffe ich auch“, wisperte ich.
Als Jordan und ich endlich das Büro verlassen durften - natürlich hatte uns Ms Forester ihre Telefonnummer in die Hand
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