Gregor und der Schlüssel zur Macht
anschließen durfte, das konnte man fast als Freundlichkeit verstehen. Aber war es Freundlichkeit? Schließlich verlangte Ripred eine Gegenleistung von ihr. Ripred wusste, dass er sich Twitchtip und ihre unglaubliche Nase zunutze machen konnte. Twitchtip sehnte sich verzweifelt danach, wieder irgendwo dazuzugehören. Sie waren aufeinander angewiesen. So wie Ripred und Gregor aufeinander angewiesen waren. Ebenso wie Gregor konnte Twitchtip sich fragen, was passieren würde, wenn Ripred sie nicht mehr brauchte.
Oder urteilte er zu hart über Ripred? Immerhin schien er mit Vikus und Solovet befreundet zu sein. Manchmal meinte Gregor hinter Ripreds Sarkasmus und Zähnefletschen echtes Mitgefühl zu spüren.
Vielleicht war für einen Wüter alles etwas komplizierter. Für Gregor galt das ganz bestimmt.
Twitchtip fing an zu stolpern, und Gregor sah, dass die Kräfte sie bald verlassen würden. Schließlich glitt sie ein letztes Mal aus, fiel auf den Bauch und kam nicht wieder hoch. Er hockte sich neben sie. Ihr Atem ging schnell und flach.
»Ich kann nicht weiter«, sagte sie. »Aber das macht nichts – ich bin sowieso am Ende meiner Duftkarte angelangt. Wenn du weitergehst, gabelt sich der Weg in drei Richtungen. Da müsste ich genauso raten wie du«, sagte sie.
»Sollen wir dich denn einfach hier liegen lassen?«, fragte Gregor.
»Ich ruhe mich eine Weile aus. Wenn die Ratten mich nicht finden, schaffe ich es vielleicht zurück zu meiner alten Höhle. Aber du … du musst jetzt weiter. Du bist dem Fluch ganz nah. Ich weiß es. Die Ratten werden dich bald riechen. Geh … geh …«, keuchte sie.
Gregor holte ihr ein Stück Fleisch und etwas altes Brot aus dem Rucksack. Was konnte er sagen? »Fliege hoch, Twitchtip.«
Sie lachte, und Blut tropfte aus dem Verband um ihre Nase. »Das sagt man nicht zu Ratten.«
»Was sagt man bei euch in so einer Situation?«, fragte Gregor.
»Wie jetzt? Lauf wie der Fluss«, sagte Twitchtip.
»Lauf wie der Fluss, Twitchtip«, sagte Gregor.
»Du auch«, sagte Twitchtip.
Und Gregor und Ares ließen sie im Tunnel auf dem Boden liegen. Als sie zu der Gabelung kamen, blieben sie stehen. Gregor sah Twitchtip vor sich, wie sie im Dunkeln lag und verblutete.
Ares erriet seine Gedanken. »Sie ist stark und schlau, sonst hätte sie nicht allein im Land des Todes überlebt. Und sie kennt ein Versteck in der Nähe.«
»Ich weiß«, sagte Gregor.
»Sie verabscheut ihr einsames Leben. Ihre einzige Hoffnung liegt darin, dass du den Fluch tötest. Ich an Twitchtips Stelle würde nicht wollen, dass du umkehrst«, sagte Ares.
Gregor nickte und nahm die Tunnel in Augenschein. »Welchen würdest du nehmen?«
»Den linken«, sagte Ares.
Sie folgten ihm eine Weile, kamen auf einen gewundenen Weg und landeten wieder am Ausgangspunkt.
»Bei genauer Betrachtung scheint mir der rechte besser«, sagte Ares.
Sie gingen in den rechten Tunnel, doch schon nach fünf Minuten mündete er in eine Sackgasse und sie mussten wieder kehrtmachen.
»Ich glaube, du solltest wählen«, sagte Ares.
Sie gingen in den mittleren Tunnel und gelangten nach zwanzig Minuten in eine große runde Höhle. Sie war fast ein perfekter Kegel, die schrägen, etwa sieben Meter hohen Wände trafen sich oben in einem einzigen Punkt. Von der Höhle aus führten mindestens ein Dutzend Tunnel in alle Richtungen, wie die Speichen eines Fahrradrades.
»Na super«, sagte Gregor. »Wo geht’s jetzt lang?«
Ares hatte keine Ahnung. »Überländer, es sind viele Stunden vergangen, seit wir zuletzt unsere Mägen füllen konnten. Wenn wir weitergehen wollen, müssen wir essen.«
Wann hatten sie zuletzt etwas gegessen? Gregor ging in Gedanken zurück – zurück zu der Zeit mit Twitchtip, zu dem Angriff der Riesenschlangen, zurück durch den Tunnel in den Humpen, zu Temps Stimme, die ihn geweckt hatte, durch die Nacht zu dem Abend, als sie alle zusammen waren. Er hatte ein Stück rohen Fisch gegessen und Boots sein ganzes Brot und sein Fleisch gegeben.
»Wir machen heia?«, hörte er ihr Stimmchen sagen, und ein brennender Schmerz durchfuhr sein Herz. Er atmete tief ein, schob Boots aus seinen Gedanken und stellte sich vor, wie die Ratten lachten. Das Eis schloss sich wieder um seine Brust.
»Du hast Recht. Wir müssen essen«, sagte Gregor und machte den Rucksack auf. Sie saßen auf dem Steinboden, würgten an dem trockenen Essen und spülten es mit Wasser aus einer Ledertasche herunter, die aussah wie ein
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