Gregor und der Schlüssel zur Macht
großen steinernen Thron. Auf dem Thron saß Nerissa.
Sie hatten sie für diese Gelegenheit zurechtgemacht. Ihr ungekämmtes Haar war zu komplizierten Zöpfen geflochten und hochgesteckt worden. Von ihren knöchernen Schultern hing ein mit Edelsteinen verziertes Kleid herab. Hinter ihr stand Vikus. Er ließ eine große goldene Krone auf Nerissas Kopf sinken und hielt dazu eine Rede. Beide hätten kaum trauriger aussehen können als in diesem Moment.
»Was ist hier los?«, flüsterte Gregor.
»Eine Krönung. Nerissa wird zur Königin gekrönt«, sagte Ares leise.
Luxa hatte Recht gehabt. Nach ihrem Tod wurde Nerissa gekrönt, nicht Vikus. Jedenfalls jetzt noch nicht.
»Dann sind Howard und die anderen also zurück«, sagte Gregor. Wie konnten sie in Regalia sonst wissen, dass Luxa tot war?
»Es sieht ganz so aus«, sagte Ares.
Wenn Mareth überlebt hatte, musste er unten im Krankenhaus sein, aber Howard und Andromeda müssten hier sein. Gregor schaute sich im Saal um, konnte sie jedoch nicht entdecken.
Mit den letzten Worten seiner Ansprache setzte Vikus Nerissa die Krone auf den Kopf. Als er sie losließ, beugte sich Nerissas dünner Hals unter dem Gewicht nach vorn.Gregor dachte, wie ungeeignet sie als Königin dieses brutalen, von Kriegen geschüttelten Reichs war. Es war gar nicht die Frage, ob sie seelisch labil war oder ob sie tatsächlich in die Zukunft blicken konnte. Das Mädchen war zu schwach, um eine Krone auf dem Kopf zu tragen. Gregor sah Luxa vor sich, wie sie ihr goldenes Haarband zurückschob. Ob sie nun Königin sein wollte oder nicht, er zweifelte nicht daran, dass sie der Aufgabe gewachsen gewesen wäre. Aber Luxa lebte nicht mehr.
Howard hatte Recht: Sie hätten Vikus zum König krönen sollen. Vikus wäre ein gutes Oberhaupt, er war klug und diplomatisch. Und er war jemand, dem die Macht nicht zu Kopf steigen würde.
Als Nerissa die Armlehnen des Throns umfasste und es schaffte, den Kopf zu heben, fand ihr Blick Gregor. Im selben Moment veränderte sich ihr Gesichtsausdruck, und dann sank sie ohnmächtig hin. Mit einem Klirren fiel die Krone hinunter und rollte über den Boden.
Es gab einen großen Aufruhr. Fast sofort kamen Leute mit einer Trage und trugen Nerissa fort. In den Reihen gab es viel Raunen und Kopfschütteln, vermutlich von jenen, die von vornherein dagegen gewesen waren, Nerissa zur Königin zu machen.
Dann entdeckte jemand Gregor und Ares. Die ganze Zeit hatten sie unbemerkt im Eingang gestanden, da die Aufmerksamkeit aller nach vorn gerichtet war. Jetzt drehten sich Hunderte von Leuten zu ihnen um und bombardierten sie mit Fragen. Vikus winkte Gregor zu sich. Er hatte nicht vorgehabt, die Geschichte von dem Fluch in einer solchen Situation zu erzählen. Er wollte mit Vikus allein sprechen und dann nach Hause zurückkehren. Aber das ging jetzt nicht mehr.
Als Gregor und Ares sich einen Weg durch den Gang nach vorn bahnten, machte die Menge ihnen Platz und verstummte allmählich. Als sie den Thron erreicht hatten, schienen alle den Atem anzuhalten.
»Seid gegrüßt, Gregor der Überländer, Ares, wir freuen uns, euch lebend zu sehen. Was bringt ihr uns für Neuigkeiten?«, sagte Vikus. »Habt ihr den Fluch gefunden?«
»Wir haben ihn gefunden«, sagte Gregor.
Sofort redeten alle im Saal aufgeregt durcheinander. Mit einer Handbewegung brachte Vikus sie zum Schweigen. »Und hast du ihm das Licht geraubt?«, fragte er.
»Nein, wir haben ihn zu Ripred gebracht«, sagte Gregor.
Einen Moment schwiegen alle fassungslos, dann brach ein Tumult los. Er sah, wie sich die Gesichter, die der Menschen und die der Fledermäuse, zu wütenden Grimassen verzogen. Etwas traf ihn seitlich am Kopf. Er fasste an die Stelle und sah, dass seine Hand voller Blut war. Zu seinen Füßen lag ein kleiner verzierter Krug. Er war wohl als Geschenk für die neue Königin gedacht gewesen. Jetzt hagelte es weitere Gegenstände. Ein Tintenfass. Ein Medaillon. Ein Kelch. Allen gemein war, dass sie aus Stein waren. Es waren allesamt Kunstwerke, doch das war Gregor herzlich egal. Er merkte nur, dass Ares und er gerade gesteinigt wurden.
Ares versuchte sich zwischen Gregor und die Menge zu stellen, aber das war zwecklos. Sie kamen immer näher und drängten die beiden an die Wand. Stimmen wurden laut, die ihren Tod forderten.
Gregor erinnerte sich an Ripreds Worte: »Und du weißt auch, dass in Regalia die Hölle los sein wird.« Er hätte sich ruhig etwas präziser ausdrücken können!
Mitten in
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