Gregor und die graue Prophezeiung
sich an, als würden ihm mehrere Streifen Heftpflaster von der Haut gerissen. »Au!«, rief er. Er befreite den Arm, in dem er die Taschenlampe hielt, doch der andere Arm war immer noch im Spinnennetz verheddert. Boots saß auf seinem Rücken und war nicht im Netz gefangen.
»Hallo!«, rief er. »Ist hier jemand?« Er schwenkte die Taschenlampe herum, aber er sah nichts als Spinnweben.
»Ich bin Gregor der Überländer. Ich komme in fried licher Absicht«, sagte er. Ich komme in friedlicher Absicht. Wo hatte er das her? Wahrscheinlich aus irgendeinem alten Film. »Ist jemand zu Hause?«
Er spürte ein leichtes Ziehen an den Sandalen und schaute hinunter. Eine riesige Spinne fesselte ihm die Füße mit einem stabilen Seidenfaden.
»Hey!«, schrie Gregor und versuchte die Füße frei zu bekommen. Doch in Windeseile hatte sich die Spinne bis zu seinen Knien hochgearbeitet.
»Du verstehst mich nicht! Ich bin – ich bin der Krieger! Der aus der Prophezeiung! Ich bin der Sohn der Sonne!«
Die Spinne arbeitete sich geschäftig an seinem Körper hoch. O nein, dachte Gregor. Die wickelt uns total ein! Er spürte, wie der Arm, der im Netz gefangen war, an seinen Körper gepresst wurde.
»Ge-go!«, quiekte Boots. Die Seidenfäden, die sich um Gregors Brust wickelten, drückten Boots an seinen Rücken.
»Vikus schickt mich!«, rief Gregor, und jetzt hielt die Spinne zum ersten Mal inne. Schnell sprach er weiter. »Ja, Vikus schickt mich; er ist auf dem Weg hierher, und wenn du uns einwickelst, wird er echt sauer!«
Um seinen Worten Nachdruck zu verleihen, fuchtelte er mit der Taschenlampe herum und leuchtete der Spinne genau ins Gesicht. Sie sprang ein paar Meter zurück, und jetzt konnte Gregor sie zum ersten Mal richtig sehen. Sechs schwarze Perlaugen, behaarte Beine und gewaltige Kiefer mit spitzen, gebogenen Giftklauen. Schnell wandte er die Taschenlampe ab. Er wollte die Spinne lieber nicht reizen.
»Du kennst also Vikus?«, fragte er. »Er müsste jeden Augenblick hier sein. Er hat irgendeine offizielle Verabredung mit eurem König. Eurer Königin. Habt ihr einenKönig oder eine Königin? Oder vielleicht ist es auch was anderes. Wir haben einen Präsidenten, aber das ist nicht dasselbe, weil man den wählen muss.« Er schwieg einen Moment. »Also, meinst du, du könntest uns jetzt wieder auspacken?«
Die Spinne beugte sich herunter und schnappte nach einem Faden. Gregor und Boots sausten fünfzehn Meter hoch in die Luft und hüpften dann runter und wieder hoch wie ein großes Jo-Jo. »Hey!«, schrie Gregor. »Hey!« Sein Mittagessen schwappte in seinem Magen. Schließlich hörte das Hüpfen auf.
Gregor leuchtete mit der Taschenlampe herum. Überall waren Spinnen. Manche waren emsig bei der Arbeit, andere schienen zu schlafen. Allen gemeinsam war, dass sie Gregor ignorierten. Das war etwas Neues. Die Kakerlaken und die Fledermäuse hatten ihn einigermaßen höflich begrüßt, eine ganze Menschenmenge in einem Stadion war bei seinem Erscheinen verstummt, die Ratten waren ausgerastet, als sie ihm begegnet waren … aber die Spinnen? Sie scherten sich überhaupt nicht um ihn.
Eine Weile rief er ihnen etwas zu. Er versuchte es mit freundlichen, verrückten, beleidigenden Worten. Keine Reaktion. Er überredete Boots, ein paarmal »Imse, Wimse, Spinne« zu singen, weil sie einen guten Draht zu Insekten hatte. Nichts. Schließlich gab er es auf und sah ihnen einfach zu.
Einmal flog ein unglückseliges Insekt in eins der Netze.Eine Spinne kam herbeigelaufen und hieb ihre Giftklauen in das Tierchen. Sofort hörte es auf sich zu bewegen. Blitzschnell wickelte die Spinne das Insekt ein, zerbrach es und spritzte ihm eine Art Saft in den Körper. Gregor wandte den Blick ab, als die Spinne sich daranmachte, die verflüssigten Eingeweide des Insekts auszuschlürfen. Igitt, das hätten wir sein können. Das könnten wir immer noch sein!, dachte er. Wenn Vikus und die anderen doch endlich auftauchen würden.
Aber würden sie überhaupt auftauchen? Was war am Flussufer geschehen? Hatten sie die Ratten abwehren können? War jemand verletzt oder, schlimmer noch, getötet worden?
Er dachte daran, wie Vikus ihm befohlen hatte wegzulaufen. »Wir Übrigen sind entbehrlich, ihr nicht!« Damit musste er die Prophezeiung gemeint haben. Sie würden immer neue Krabbler, Flieger und Spinner finden. Nerissa könnte einspringen, falls Luxa oder Henry etwas zustoßen sollte. Vielleicht könnten sie auch jemand anderen zum König oder zur
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