Gregor und die graue Prophezeiung
sitzen. Ares schwebte unschlüssig in der Luft. Gregor fragte sich, ob er von Henrys Plan gewusst hatte. Wenn es so war, warum hatten sie dann nicht gemeinsam aus der Luft angegriffen? Es war schwer, die Gedanken der Fledermäuse zu erraten.
Erst jetzt bemerkte Gregor, dass Temp und Tick über der schlafenden Boots standen und sie abschirmten. Gox saß immer noch in dem provisorischen Netz, das sie vorm Schlafengehen gewebt hatte.
»Es ist vorbei«, sagte Gregor mit einer Autorität, die er nicht in sich vermutet hätte. »Leg dein Schwert weg, Henry. Ripred, setz dich – setz dich einfach hin! Es ist vorbei!«
Würden sie auf ihn hören? Gregor wusste es nicht, aber er war fest entschlossen, nicht nachzugeben. Es war ein langer, gespannter Moment. Dann schloss Ripred die Lippen über die gebleckten Zähne und fing an zu lachen. »Eins muss man dir lassen, Krieger, an Kühnheit mangelt es dir nicht!«
Henry ließ das Schwert scheppernd zu Boden fallen,was kein großes Zugeständnis war, denn Gregor sah, dass er es kaum noch halten konnte. »Oder an verräterischem Geist«, sagte Henry ruhig.
Gregor kniff die Augen zusammen. »Da, wo ich herkomme, halten wir nicht so viel von Leuten, die sich an jemanden heranschleichen und ihn hinterrücks im Schlaf ermorden.«
»Er ist kein Jemand, er ist eine Ratte«, sagte Henry. »Wenn du nicht in der Lage bist, das zu unterscheiden, kannst du dich jetzt schon zu den Toten zählen.«
Gregor hielt Henrys kaltem Blick stand. Er wusste, dass ihm später eine Menge cooler Antworten einfallen würden, aber in diesem Moment war sein Kopf leer. Er wandte sich zu Luxa und sagte schroff: »Am besten flicken wir sie jetzt zusammen.«
In erster Hilfe waren sie nicht viel besser als im Kochen, aber immerhin wusste Luxa, welche Salbe die richtige war. Als allergrößte Hilfe erwies sich Gox. Sie webte ein spezielles Netz und ließ sie ein paar Hände voll von den Seidenfäden auf die Wunden pressen. Schon bald hörten die Wunden an Henrys Arm und auf Ripreds Brust auf zu bluten.
Als Gregor noch eine Extralage Seidenfäden auf Ripreds verfilztes Fell drückte, murmelte die Ratte: »Ich bin dir wohl zu Dank verpflichtet.«
»Vergiss es«, sagte Gregor. »Ich hab’s nur gemacht, weil ich dich brauche.« Ripred sollte sich nicht einbilden, sie wären Freunde oder so etwas.
»Wirklich? Da bin ich aber froh«, sagte Ripred. »Ich dachte schon, ich hätte dich bei einer Art Gerechtigkeitssinn ertappt. Höchst gefährlich im Unterland, Junge.«
Gregor hatte genug davon, immer wieder an die Gefahren des Unterlands erinnert zu werden. Das ganze Unterland war ein einziges großes Minenfeld. Er ignorierte Ripreds Bemerkung und verarztete weiter die Wunden. Hinter sich hörte er, wie Luxa Henry zuflüsterte: »Warum hast du uns nicht eingeweiht?«
»Damit du in Sicherheit bist«, flüsterte Henry zurück.
In Sicherheit, dachte Gregor. Aha. Selbst wenn er wieder ins Überland kommen würde, in Sicherheit würde er sich bestimmt nie wieder fühlen.
»Mach das nicht noch mal, Henry«, hörte Gregor Luxa sagen. »Allein kannst du ihn nicht besiegen.«
»Es wäre vielleicht gelungen, hätte der Überländer sich nicht eingemischt«, sagte Henry.
»Nein, es ist zu gefährlich, und wir könnten ihn noch brauchen«, sagte Luxa. »Lass die Ratte am Leben.«
»Ist das ein Befehl, Eure Hoheit?«, fragte Henry mit leicht gereizter Stimme.
»Wenn du keine andere Sprache verstehst, ja«, sagte Luxa ernst. »Halte dich mit dem Schwert zurück, bis wir unsere Lage besser überblicken.«
»Du sprichst genauso wie der alte Narr Vikus«, sagte Henry.
»Nein, ich spreche wie ich selbst«, sagte Luxa ungehalten. »Und wie eine, die will, dass wir beide überleben.«
Sie hatten die Stimmen so erhoben, dass alle sie hören konnten, deshalb verstummten sie. In der Stille fing Ripred wieder an auf dem Knochen herumzukauen, den er mitgeschleppt hatte. Das schabende Geräusch zerrte an Gregors Nerven. »Könntest du wohl bitte damit aufhören?«, fragte er.
»Nein, kann ich nicht«, sagte Ripred. »Die Zähne von uns Ratten wachsen unser Leben lang weiter, und das erfordert beständiges Nagen, damit sie in einer handlichen Länge bleiben. Wenn ich nicht regelmäßig nagen würde, würden mir die unteren Zähne schon bald durch die Schädeldecke wachsen und mein Gehirn durchstoßen und, o weh, mich töten.«
»Gut, dass ich gefragt habe«, sagte Gregor, klatschte ein letztes Stück Spinnweben auf Ripreds
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