Gregor und die graue Prophezeiung
sein Vater lächelnd.
»Geht’s dir gut?«, fragte Gregor, ohne ihn loszulassen.
»Ach, noch ein paar anständige Mahlzeiten, dann bin ich wieder ganz der Alte«, sagte sein Vater. Sie wussten beide, dass es so einfach nicht sein würde. Das Leben würde nie wieder so sein, wie es einmal war, aber sie würden ihr Leben wiederhaben, und zwar zusammen.
Die nächsten Stunden verbrachte Gregor nur mit seinem Vater, Boots und Temp, der hereinkam, um nach der Prinzessin zu sehen. Gregor hätte seinen Vater nicht nach seinem Martyrium gefragt, aber offenbar wollte er darüber sprechen. »In der Nacht, als ich gefallen bin, konnte ich nicht schlafen. Da bin ich in den Wäschekeller gegangen, um ein bisschen Saxophon zu spielen. Ich wollte niemanden wecken.«
»Wir sind auch von dort aus gefallen!«, sagte Gregor. »Durch den Luftschacht.«
»Genau. Das Gitter hat plötzlich geklappert«, erzählte sein Vater. »Als ich nachsehen wollte, was los war, wurde ich sofort eingesaugt und bin hier gelandet. Weißt du, hier gibt es so ein merkwürdiges Phänomen der Luftströme …« Und dann sprach sein Vater zwanzig Minuten darüber, was es mit dem Luftstrom physikalisch auf sich hatte. Gregor verstand kein Wort, aber er genoss es, seinem Vater zuzuhören.
»Ich war schon wochenlang in Regalia und wurde ganz verrückt vor Sehnsucht nach euch. Da hab ich eines Nachts mit ein paar Taschenlampen und einem Luftgewehr aus dem Museum einen Fluchtversuch gewagt. Aber die Ratten haben mich erwischt, ehe ich die Wasserstraße erreicht hatte.« Er schüttelte den Kopf.
»Wieso haben sie dich am Leben gelassen?«, fragte Gregor.
»Das hatte nichts mit mir zu tun. Es lag an dem Gewehr. Als ich keine Munition mehr hatte, haben sie mich eingeholt. Eine von ihnen fragte nach dem Gewehr, und da hab ich einfach das Blaue vom Himmel runtererzählt. Ich hab ihnen weisgemacht, ich könnte Gewehre bauen, und deshalb haben sie beschlossen mich am Leben zu lassen. Ich hab meine Tage damit verbracht, Waffen zu bauen, die ich benutzen konnte, die aber auseinander fielen, sobald die Ratten sie anfassten. Eine Armbrust, eine Schleuder,einen Mauerbrecher. Gut, dass du endlich gekommen bist. Ich glaube, sie hatten allmählich den Verdacht, dass ich nie irgendwas bauen würde, das zweimal funktioniert«, sagte sein Vater.
»Ich weiß nicht, wie du das ausgehalten hast«, sagte Gregor.
»Ich hab einfach immer daran geglaubt, dass ich eines Tages wieder nach Hause komme«, sagte sein Vater. Ein Schatten glitt über sein Gesicht, und er hatte große Mühe, die nächste Frage zu stellen. »Und wie geht es deiner Mutter?«
»Im Moment wahrscheinlich nicht so besonders«, sagte Gregor. »Aber wenn wir dich zurückbringen, ist alles wieder gut.«
Sein Vater nickte. »Und wie geht’s dir?«
Gregor sprach nicht über seine Probleme, er erzählte nur von den angenehmen Sachen. Er erzählte vom Laufen und von der Schule und von seinem Saxophonauftritt in der Carnegie Hall. Er sagte nichts von Spinnen und Ratten und was er alles durchgemacht hatte, seit sein Vater verschwunden war.
Den ganzen Nachmittag spielten sie mit Boots, sie versuchten sich gegenseitig zu füttern und sie fassten sich immer wieder ohne besonderen Grund an.
Schließlich kam Dulcet und bestand darauf, dass sein Vater und Boots Ruhe brauchten. Als Gregor in den Palast zurückkehrte, war er glücklicher, als er in den letzten zweiJahren, sieben Monaten und es-kam-nicht-mehr-darauf-an-wie-vielen Tagen gewesen war. Jetzt konnte er die Regel vergessen. Für immer. Selbst wenn wieder einmal schlechte Zeiten kommen sollten, würde er nicht von vornherein die Möglichkeit ausschließen, dass es eine glücklichere Zukunft geben könnte. Er würde es sich erlauben zu träumen.
Auf dem Weg ins Bett kam er an dem Raum vorbei, in dem man ihn in der Nacht seines Fluchtversuchs gefangen gehalten hatte. Darin saß Vikus allein am Tisch, um sich herum stapelweise Schriftrollen und Karten. Seine Miene hellte sich auf, als er Gregor sah, und er winkte ihn herein.
»Komm, komm, seit du zurück bist, haben wir noch nicht gesprochen«, sagte er eifrig. »Wie geht es deinem Vater?«
»Besser. Viel besser«, sagte Gregor und setzte sich Vikus gegenüber.
»Und der Prinzessin?«, fragte Vikus lächelnd.
»Es geht ihr gut. Das Fieber ist weg«, sagte Gregor.
Eine Weile saßen sie da und wussten nicht, wo sie anfangen sollten.
»Also, Krieger … du bist gesprungen«, sagte Vikus.
»Ja, das kann man
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