Grenzen der Sehnsucht
Schwulen gar nichts anderes übrig, als sich selbst neu zu erfinden.
„Wir wachsen auf in einer Welt mit weitgehend festge-legten Geschlechterrollen, und früher oder später merkt jeder von uns: ,Oh, da passe ich ja gar nicht rein.’ Und in der Beschäftigung mit der Frage, in welcher Rolle man sein Dasein ausfüllen soll, entwickelt man ein besonderes Gespür für alles, was mit den normalen Rollenbildern nicht vereinbar ist oder diese eben parodiert. Aufgrund einer anderen Sichtweise ist man von Helden und Heldinnen fasziniert, die irgendwie Außenseiter sind, die anders und manchmal eben auch völlig neben der Spur sind. Solche Figuren findet man oft in der Popkultur.“ Und darum auch in vielen schwulen Wohn- und Schlafzimmern, wo man mitunter auf kleine Weihestätten für Stars wie Abba, Barbra Streisand, Olivia Newton-John und David Beckham stoßen kann. Oder auf beachtliche Samm-lungen von Barbies und Marvel-Superhelden. In der Berliner Szene geht sogar das Gerücht um, dass einer einen Raum seiner Altbauwohnung als privates Penny McLean-Museum eingerichtet haben soll. „Penny McLean?“
Frank starrt mich ungläubig an, als ich ihm davon erzähle. Dann bricht er in lautes Gelächter aus und fällt dabei fast vom Stuhl. Nachdem er sich wieder beruhigt hat, sagt er kopfschüttelnd: „Das find ich toll.“ Dann blickt er plötzlich ganz ernst drein und versichert ohne Ironie: „Nein, wirklich, so was begeistert mich. Für solche Schrulligkeiten habe ich großes Verständnis.“
Ein Blick zurück: Penny McLean ist Österreicherin und heißt mit gutbürgerlichem Namen Gertrude Wirschinger. In den siebziger Jahren tingelte die Rothaarige im Glitzerfummel mit dem Hit Lady Bump durchs Land. Es folgten höchstens ein, zwei weitere Songs und noch ein paar im Trio mit Silver Convention, keiner davon wirklich von Rang. Aber es war die Zeit des Disco-Kults, der für Schwule ohnehin eine besondere Bedeutung erlangte.
Die Homo-Disco war damals einer der wenigen Fluchtorte für Schwule, an dem sie angstfrei ihre Orientierung ausleben, ja sogar umso tabuloser zelebrieren konnten. Your Disco Needs You hätte das Motto auch schon in den Siebzigern lauten können. Dort wurde mitunter auf den Putz gehauen, wie es nur ging. Drogen, Sex und Ekstase – das ist jedenfalls der Stoff, von dem Legenden aus der Zeit vor Aids noch heute berichten. In Köln kursieren immer noch wilde Geschichten von längst nicht mehr existenten Clubs wie dem Coconut oder dem Pimpernell, in denen die Stimmung ausgelassener und ungezwungener gewesen sein soll als heutzutage im Gloria. Allerdings muss man dabei einräumen, dass auch in der kollektiven Erinnerung vieles verklärt wird. Als Frank nach Köln kam, gab es das Pimpernell schon lange nicht mehr. Das Gebäude am Rudolfplatz war inzwischen abgerissen worden. Am Wochenende fuhren viele nach Düsseldorf, und irgendwie war damals die Zeit des großen Feierns erst mal vorbei. Und dennoch: „Köln faszinierte mich sofort“, erinnert sich Hoyer.
Inzwischen lebt er seit über zehn Jahren hier, nachdem er aus dem Schwabenland die Flucht ergriffen hatte. Von hier würde er nur ungern wieder wegziehen. Als früherer Mitarbeiter des Bundestags hatte er 1998 mit dem Regierungsumzug die Möglichkeit, nach Berlin zu gehen. Das kam für ihn allerdings nicht in Frage. „Berlin ist mir zu unübersichtlich, zu groß und zu rau. Ich würde das Kuschelige an Köln vermissen. Auch wenn das ein Klischee ist – der rheinische Karneval hat es mir von Anfang an angetan. Bis dahin hatte ich keine Ahnung; mit der alemannischen Fastnacht ließ sich das nicht vergleichen. Ich erinnere mich, dass ich mal in einer Stuttgarter Schwulenbar herumstand und das geradezu als surreal empfand, wie drei Karnevalisten vergeblich versuchten, durch eine Polonaise etwas Stimmung aufkommen zu lassen. Als ich mich dann zwei Jahre später in Köln auf Wohnungssuche begab, wurde ich zufällig Zeuge, wie morgens um acht Uhr früh plötzlich die Tür einer Kneipe aufging, bei lauter Musik eine bunt kostümierte, etwa fünfzig Personen starke Polonaise herausschunkelte, laut singend eine Acht auf der Straße drehte und dann schlagartig wieder dorthin verschwand, von wo sie gekommen war. Da dachte ich sofort: ,Hier bist du richtig. Hier ist der Frohsinn zu Hause, den du immer gesucht hast. Hier nimmst du die erstbeste Wohnung!’„
Frankfurt
Anything Goes!
Vom schwulen Woodstock-Tummelplatz
zur Hochburg der
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