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Grenzwärts

Grenzwärts

Titel: Grenzwärts Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver G. Wachlin
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Chopinstraße nach Polen.

12
    DIE TÜRGLOCKE LÄUTET,  als ich eintrete. Früher war das hier die » PGH  Brüning«, ein Schneidereigeschäft, in dem man Hosen und Jacken ändern lassen konnte oder auch mal etwas anfertigen.  PGH  hieß »Produktionsgenossenschaft Handwerk«. Ähnlich wie die Bauern zu landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften zusammengeführt wurden, wurde auch das private Handwerk angewiesen, sich zu kollektivieren.
    Der alte Brüning hatte das Geschäft von seinen Vater übernommen, der im Krieg gefallen war. Er wehrte sich nicht gegen die Umwandlung zur  PGH  und blieb dem Laden treu. Angestellt als Schneider in jener Genossenschaft, die seinen Namen trug. Bis die  DDR  lautlos zusammenbrach. Seitdem ist Brüning wieder Herr im eigenen Haus. Vor Kurzem hat er ein neues Schild über dem Laden anbringen lassen:  »BRÜNING – HERRENAUSSTATTER – KONFEKTION UND MASSANZÜGE SEIT 1920«.
    Aus dem hinteren Teil des Geschäftes kommt er auf mich zu. Ein gealterter Meister Nadelöhr. Weit über siebzig, aber voller Akkuratesse.
    »Guten Tag, junger Mann. Wie kann ich Ihnen behilflich sein?«
    »Ich brauch ‘nen Anzug«, antworte ich und schaue mir die ausgestellten Teile an. Die wenigsten hat der alte Brüning selbst geschneidert, das meiste sind westliche Edelmarken von der Stange, Boss, Armani, Gaultier …
    »Für welchen Anlass?« Brüning lächelt despektierlich. »Abendgarderobe, Gesellschafts- oder Geschäftskleidung?«
    »Geschäftskleidung klingt gut.«
    »Kommen Sie bitte hier entlang.« Der alte Schneider stolziert etwas steif voraus und dirigiert mich mit ausladenden Handbewegungen durch die Reihen verschiedenster Anzüge. Plötzlich stoppt er und mustert mich von oben bis unten. Lange. Sehr lange.
    »Ich würde sagen«, sagt er schließlich und kratzt sich nachdenklich am Kinn, »bei Ihrer kräftigen Statur wäre ein Zweireiher nicht schlecht.« Flugs hat er einen anthrazitfarbenen Anzug in der Hand und hält ihn mir hin. »So was zum Beispiel.«
    Ja, sehr edel. Der dürfte Eindruck auf Jule machen. Vorsichtig riskiere ich einen Blick aufs Preisschild. – Aua!
    »Mann, achthundert Ecken«, maule ich vorwurfsvoll. »Geht’s nicht billiger?«
    Brüning hebt fragend die buschigen Augenbrauen. »Ähm, was für eine Preisvorstellung hatten Sie denn?«
    Ich rechne kurz nach. Dreihundert hat mir Roland gegeben. Mindestens fünfzig davon wollte ich in Blumen für Jule investieren. In einen ganz großen Strauß, größer jedenfalls als der von Roland gestern. Na, und dann will ich sie ja noch zu irgendwas einladen, zu einem Bier oder so, vielleicht auch zum Essen …
    »Zweihundert«, sage ich schließlich. »Maximum.«
    »Zweihundert, mhm«, nickt der alte Mann bedauernd. »Das reduziert natürlich etwas die Auswahl, aber …« Er lächelt mich milde an. »Wir haben sicher etwas Passendes im Lager für Sie. Wenn Sie mir bitte folgen würden!«
    Als ich nach circa anderthalb Stunden den Laden verlasse, komme ich mir vor wie Theo Kojak. Der Zweireiher ist bestimmt aus den siebziger Jahren und auffällig gestreift, aber er passt wie maßgeschneidert.
    »Ein Meisterstück«, hat der alte Brüning immer wieder behauptet und mir ein Einstecktuch unters breite Revers gesteckt. »Englische Schurwolle und zu seiner Zeit gut tausend Mark wert. Aber heute wissen die Leute ja gar nicht mehr, was Qualität ist.«
    Und deshalb überließ er ihn mir für meine zweihundert Märker. Krawatte und Hemd gab’s gratis dazu. Ebenso einen Hut, weil man, wie der alte Brüning fand, »dieses Stück einfach mit Hut tragen muss. Das gehört sich so.«
    Ich besah mich im Spiegel und grinste. Telly Savalas ließ grüßen. Fehlte nur noch der Lolli.
    In einem kleinen Blumenladen am Markt kaufe ich für fünfzig Mark ein mächtiges Gebinde aus verschiedenen Herbstblumen. Eigentlich will ich es in den Nationalfarben der deutschen Republik haben, Schwarz, Rot und Gold, um Jule zu beweisen, dass ich durchaus Demokrat bin – aber es gibt eben keine schwarzen Blumen. Nicht mal im Herbst. Der Verkäufer schlägt mir stattdessen eine entsprechende Schleife vor, doch damit wirkt das Ganze dann wie ein Grabstrauß. Schließlich entscheide ich mich für dunkelrote Rosen, dazu rotgelbe Dahlien und grünes Gemüse drum herum, so wird die Sache dann doch ganz nett.
    Mit dem Strauß in der Hand marschiere ich zum Johannisplatz. Es regnet zwar, doch es sind nur wenige Meter, und ich erreiche den »Johannishof« noch

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