Gretchen
Stockholm Elektrotechnik studiert hatte. Und mit ihm kamen Alena, die drei Winter lang in New York für die Mode lebte, und Finn, der in Brüssel zum Konditor reifte. Alle waren sie in Kyells Alter, als sie fortgingen, und nun war es an ihm, die Welt zu erobern, wie es hieß, dabei war ihm nie nach Erobern, er wollte immer nur beobachten und lernen und Mädchen küssen. Aber er wusste, dass es auch für ihn keine Ausnahme gab, er musste sich entscheiden und er musste gehen. Er glaubte nicht, dass er zum Tierarzt berufen war. Er mochte Tiere, aber er wollte sie nicht aufschneiden, und schon gar nicht wollte er die Dinge machen, die Tykwer machte, wenn es um die rektale Zyklusdiagnostik bei Jákups Kühen ging. Gummihandschuhe und Gleitmittel machten die Sache auch nicht besser. Er rätselte nicht zum ersten Mal über seine Talente, er fragte sich fast jeden Tag, wo seine Stärken lagen und welchen Weg er wohl einschlagen würde. Gab es so etwas wie Bestimmung, und wenn ja, warum war er dann immer noch kein Schmetterling? Auch keines der anderen Praktika hatte sich als Perspektive entpuppt. Weder die zwei Wochen als Tischler bei Toivo und schon gar nicht das kurze Gastspiel als Leistungsschwimmer im Internationalen Verein für Leibesübungen im Bereich Wasser. Mikael, verantwortlicher Trainer und gleichzeitig Vorstand, Förderer und Ehrenpräsident im Internationalen Verein für Leibesübungen im Bereich Wasser, hatte in Kyell keinen künftigen Olympioniken erkennen können. Selbst das Seepferdchen ließ sich nur widerwillig anstecken. Was, wenn es für ihn keine Vorsehung gab? Wenn er nichts wirklich konnte? Wenn er keine Gabe besaß? Wenn er nur zu leben vermochte?
Er nahm einen der Pfirsiche aus dem Beutel, rieb ihn gedankenverloren an seiner Hose und biss in die samtige Haut hinein. Der Saft tropfte an seinen Mundwinkeln hinab, er versuchte ihn mit der Zunge aufzufangen, es schmeckte süß, nach mehr. Sein kleiner Zeh schlief ein, sein ganzer linker Fuß fing an zu kribbeln, er schüttelte ihn ungemach, denn Taubheit mochte er nicht, nie. Von Ferne war ein Kreischen zu hören, mehr ein Schimpfen, ein Durcheinander an Lauten in kruden Tonlagen. Er schaute hinauf zu den Basstölpeln und den Trottellummen, wie sie ihre Kreise über dem Meer zogen, vom Wind getragen, den Blick nach unten gerichtet, auf der Suche nach Heringen und Sprotten, die noch gar nichts ahnten von ihrem Glück. Er neidete den Vögeln ihre Flugkunst, ihre grenzenlose Freiheit, wie er dummerweise annahm, dabei hatte der Großvater ihn doch immer gelehrt, dass Freiheit nur eine Illusion sei, wie alles andere auch. Aber wenn alles nur eine Illusion war, wie konnte es dann sein, dass er nicht fliegen konnte? Welche Illusion war denn schon die wahre? Die Illusion an sich oder die Illusion einer Illusion? Vielleicht war der Großvater ja noch bei ihm und dieses Leben nur ein Traum, vielleicht war Bewusstsein nur eine Krankheit, ein Zustand jenseits aller Vernunft, ein sinnloses Nichts in bunter Tracht, und vielleicht war Kyell gar eigentlich ein mythischer Held aus Asenheim, angetan mit Tapferkeit und Edelmut, ein kühner Krieger, der auf dem gleichsam furchtlosen Hengste Sleipnir den Eisriesen entgegenreitet, um die Toren donnergrollend mit seinem Hammer Mjölnir zu fällen.
Vielleicht aber auch nicht.
Der Wind nahm zu, Büsche und Bäume rauschten in düsterer Stimmung und die Wolken plusterten sich auf, als würden sie auf irgendetwas oder auf irgendjemanden einen mächtigen Groll hegen. Selbst der Einfältigste mochte erkennen, welch stürmische Zeiten sich ankündeten, die fern eines knisterwarmen Heimes weder Labsal noch Glückseligkeit versprachen. Kyell packte seine Sachen und stieg den Weg hinab, er wollte nicht wieder pitschepatschenass werden, er war anfällig für Erkältungen, eine Schwäche, die er nicht erklären konnte. Beiläufig pflückte er wilden Thymian und eine Handvoll Wacholderbeeren, ganz automatisch, er pflückte immer etwas, wenn er unterwegs war. Die wichtigsten Kräuter aber wuchsen in dem kleinen Garten, den er noch mit dem Großvater angelegt hatte und den er aus der Ferne schon erkennen konnte. Als die ersten Tropfen fielen, fing er an zu laufen. Er war schnell. Und geschickt. Kleinen Erdhügeln und verstorbenen Ästen wich er elegant aus, nur über ein glitschiges Wurzelwerk wäre er beinahe gestolpert. Kaum zu Hause angekommen, hörte er Puccini grunzen, den zartrosigen Müllschlucker, der nie satt wurde, ganz
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