Gretchen
aber bitte schön. Solange die Toilette sauber ist, kann sie lesen, was sie möchte.«
»Und was genau hat Ihre Zugehfrau Anna mit den Vorkommnissen an jenem Tag im besagten Mai zu tun.«
»Nichts, warum? Ich habe Ihnen davon erzählt, damit Sie sich ein Bild von meinem Leben und den Problemen in meinem sozialen Umfeld machen können. Ein Blick hinter die Kulissen sozusagen, ein privatimes Schmankerl für die geschundene Paragrafenseele.«
»Bezaubernd, vielen Dank. Aber noch einmal: Was haben Sie am besagten Tag vorher getan, wie konnten Sie in einen solchen Zustand geraten?«
»Mittwochs habe ich Revolution.«
»Revolution?«
»Bei Adele, dritter Stock, geheimes Klopfsignal, dreimal kurz, zweimal lang. Und dann öffnen sich die Pforten zum Salon der Debütanten. So heißt die Gruppe, ein geheimer Zirkel, eine eingeschworene Gemeinde aus erlesenen Individualisten, die im Untergrund fantastische Aktionen gegen das System oder so plant.«
Gretchen Morgenthau mochte Revolution immer sehr gerne. Schon in den Sechzigern. Sie fand es immer schick, sie mochte die Insignien, die Attitüde und das Massaker. Das Gequatsche allerdings mochte sie nicht. Dieses neo- oder postmarxistische Geschwurbel ging ihr regelrecht auf die Nerven. Und eigentlich hatte sich Gretchen Morgenthau dem Salon der Debütanten nur wegen Frederic angeschlossen. Frederic, von Gott mit unermesslicher Schönheit geplagt, Sprachrohr, Taktgeber und Seele der Gruppe, halb Franzose, halb Engländer, keine 40, Derridaist, der Derrida verachtete, Anti-Humanist und prinzipiell humorfrei. Als sie ihn das erste Mal traf, war sie gänzlich unvorbereitet, es war nur ein Umtrunk bei Haders, die üblichen Gestalten, der Wein zu kalt, die Gespräche mau, und dann kam er, nicht angekündigt, nur mitgebracht, von dieser jungen Schauspielerin, deren Namen sie vergessen hatte, die aber sehr schön sterben konnte, und das konnten ja die wenigsten, sehr schön sterben. An diesem Abend aber lebte sie, ganz hungrig und ungezwungen, und der Stolz in ihren Augen war gar nicht mal unangenehm, nur verständlich. Der junge Alain Delon sah neben Frederic wie Abfall aus. Und dann noch diese Stimme, ein rauchiges Englisch mit französischem Akzent, ganz nonchalant, ganz unwiderstehlich. Und gleichwohl Gretchen Morgenthau für Äußerlichkeiten absolut nichts übrig hatte, ging sie gerne zum Salon der Debütanten, wo selbst die Gedanken noch jung und unbekümmert waren, frei von Verzweiflung und Ironie.
»Fantastische Aktionen gegen das System?«, fragte Joseph ein wenig irritiert nach. »Sie meinen, Pflastersteine werfen?«
»Diffamateur!«, ertönte eine Stimme aus dem Publikum. Alle Blicke richteten sich auf den jungen schönen Mann, der als Einziger unter all den Sitzenden aufrecht stand. Das Licht schmeichelte um seine dunklen, langen Locken, ein blütenweißes Hemd schmiegte sich um den schlanken, muskulösen Oberkörper. In seinen braunen Augen spiegelte sich wilde Entschlossenheit und unbarmherzige Erlösung wieder. Es war Frederic. Die weibliche Hälfte des Publikums seufzte. Herzen wurden gebrochen, für immer, vielleicht sogar für ewig.
»Wir sind keine antifaschistische Kleinkindergruppe«, nahm Frederic den Fehdehandschuh auf, »Steinchen werfen und Feuerchen legen überlassen wir den Kleinstkriminellen. Wir leben auch nicht in ideologischen Bretterbuden, wir sind keine Kommunisten, keine Maoisten, nicht einmal Situationisten. Dass der Kapitalismus am Ende ist, das wissen wir. Dass der Typus Politiker in sich selbst verrottet, dass die fetten, degenerierten Kulturbeamten in ihrem staatlich geförderten Hochsicherheitstrakt die Kunst erhängen, das wissen wir …«
Joseph klopfte leicht gelangweilt mit seinem Hämmerchen.
»… dass das Netz der Monopolisten und Schmiergeldzahler zerstört werden muss, das wissen wir, dass kleine autonome Kommunen sich wieder selbst versorgen, sich selbstverwirklichen und idealiter eine neue, eine wahrhaftige Gesellschaft gebären müssen, das wissen wir. Wir wissen! Doch nicht das auf dem Sofa vergammelnde Proletariat wird sich erheben, denn das sehnt sich nur nach Brot, Bier und Spielen, sondern die antiklassizistischen Kinder des arbeitenden Bürgertums, die die Angst vor dem sozialen Abstieg und …«
Joseph klopfte etwas lauter mit seinem Hämmerchen.
»… die Wut auf die herrschende Dummheit schon mit der Muttermilch aufsaugen. Und wahrlich, ich sage euch, die Jugend wird folgen, den Denkern und Parolenerfindern, den
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