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Gretchen

Gretchen

Titel: Gretchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Einzlkind
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eine schöne neue Welt mit seinen allerliebsten Buntstiften. Von Trümmerlandschaften war vorher eigentlich nie die Rede.
    Im Sommer vor zwei Jahren, sie waren hormonell disharmonisch und voller Tatendurst, sagte Tule, dass die Zeit gekommen sei, berühmt zu werden. Besser noch: unsterblich. Er wusste auch schon wie. Unsterblich, sagte er, werde man nur als Mythos, als Legende. Kyell ahnte, wovon er sprach, worauf er hinauswollte. Als er in jungen Jahren Hektor und Achilles, die beiden Kaulquappen, vor dem Ertrinken rettete, und sie kurz darauf in seinen Händen verstarben, da war es ihm von Trost, dass sie als Helden ewig in Erinnerung blieben. Und da er nichts anderes zu tun hatte, willigte er also ein, unsterblich zu werden.
    »Was können wir am besten?«, fragte Tule ihn damals.
    Kyell überlegte länger, als er für die Zubereitung einer Bouillabaisse benötigte, und sagte spontan: »Angeln.«
    »Falsch! Wir sind Musiker!«
    Das allerdings war ihm neu. Mit sieben Jahren erhielt Kyell eine Doppelstunde Klavierunterricht bei Helga, die im Gotteshaus auch die Orgel bediente. Der Großvater wollte damals herausfinden, ob ungeahnte musikalische Fähigkeiten in ihm schlummerten. Helgas Beurteilung, in der sie von Flusspferden in Afrika sprach, denen das Fliegen auch nur sehr mühsam beizubringen sei, ließ erahnen, dass eine Karriere als Konzertpianist mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit keine Option wäre.
    Tule aber meinte, es gehe weniger um das handwerkliche Geschick als vielmehr um die Kunst. In seinen Augen blitzte ein Funken Wahnsinn, als er schrie: Das Leben ist endlich, die Kunst unsterblich! Doch nicht die verkopfte, die auch ihm zuerst in den Sinn kam, in der alte Volksweisen vertont und Filme von kopulierenden Heuschrecken gezeigt werden. Nein, es gehe um die wahre Kunst, sagte er, die den Menschen mitzureißen vermag, die ihm eine Identität gibt, ihn verwurzelt und gleichsam in eine metaphysische Sphäre der Verschworenheit entführt. Er benutzte Wörter wie Underground und Independent, er sprach von Integrität und Subkultur und so weiter und viel mehr. Kyell verstand nicht genau, was er meinte, und verlor ein wenig die Lust an der Unsterblichkeit, bis Tule nahezu beiläufig erwähnte, dass die Frauen ihnen zu Füßen liegen werden. Fantasie ist eine Gabe, sagte der Großvater immer, man solle sparsam mit ihr umgehen, sonst mache man sich zum Trottel. Kyell aber war in einem Alter, in dem die Hormone Völkerball spielten und alles abschossen, was auch nur annähernd wie Vernunft aussah. Und warum sollten ihnen die Frauen nicht zu Füßen liegen? Sie holten sogar Lori mit in die Band.
    Loris einzige Qualifikation bestand darin, nicht so gut auszusehen wie der Rest der Band. Das heißt, eigentlich wusste niemand so ganz genau, wie Lori aussah. Seine dunklen, halblangen Haare hingen in Strähnen vor seinem Gesicht, die Augen waren nur bei günstigen Windverhältnissen für einen kurzen Moment zu erkennen, sie waren braun und an den Lidern schwarz nachgezeichnet. Er war hager, blass, von gebückter Statur und er trug ausschließlich schwarze Kleidung. Es gab Gerüchte, wonach er ein Vampir sein sollte. Kyell war da nicht so sicher. Es stimmte zwar, dass Lori sich gerne auf dem Tierfriedhof aufhielt, dass er stundenlang auf einer Bank sitzen und den Vollmond anschauen konnte, dass Fledermäuse seine Lieblingstiere waren und er Sonnenlicht als Todesstrahlen bezeichnete. Aber Kyell hatte ihn nie Blut trinken sehen, geschweige denn, dass er seine Zähne in Hälse schlug. Er hatte Karies. Und auf Kyell wirkte Lori eher sensibel, fast schon zerbrechlich, er hatte ihn sogar Gedichte schreiben sehen, und das machte man ja nur, dachte Kyell immer, wenn man auch mal weint, weil die Welt so traurig ist, so gemein und so ungerecht, so sind Poeten, total emotional. Loris Begeisterung darüber, in der Band mitzuspielen, war jedoch seltsam gedämpft, nahezu ablehnend, und er tat so, als hätte er Husten. Er schien nicht recht zu verstehen, dass die Götter sie auserwählt hatten, dass die Unsterblichkeit als Geschenk des Himmels nichts war, das man so mir nichts dir nichts ablehnen konnte. Doch erst als die ihnen zu Füßen liegenden Frauen zur Sprache kamen, zeigte auch er sich aufgeschlossener.
    Ihr erstes Treffen als Band fand bei Tule statt. Er wohnte damals noch bei seinen Eltern, oben im Dachgeschoss. Sein Zimmer maß über 20 Quadratmeter, und doch war es nicht leicht, einen freien Platz zu finden

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