Gretchen
Hilflosigkeit zeugt und es insbesondere auf einem Gerichtsflur nicht an der Zeit war, ein kleines Exempel zu statuieren, eingedenk all dieser unumstößlichen Wahrheiten griff sie Johann Meyerhofer, dem Lehrer für Latein und Geschichte, in den Schritt, drückte gerade so fest zu, dass die Schmerzen nicht zur Ohnmacht führten, beugte sich leicht hinunter und säuselte mit sanfter Stimme: »Mein lieber Herr Meyerhofer, ich hege die Bekanntschaft mit großflächig tätowierten Menschen aus Weißrussland, die mir einen Gefallen schulden, einen großen, und wenn ich sie darum bitte, dann werden diese urwüchsigen wilden Männer voller Freude einen ganzen Tag lang Liebe mit Ihrem Po machen. Und danach schneiden sie Ihnen den Kopf ab. Möchten Sie das?«
Noch bevor Johann Meyerhofer, der Lehrer für Latein und Geschichte, ja zum Abenteuer seines Lebens sagen konnte, ging die Saaltür auf und der Gerichtsdiener bat alle Beteiligten wieder hinein. Es dauerte eine Weile, bis alle ihren alten oder einen neuen Platz gefunden hatten und sich das Gekrausche und Gezwitscher ein wenig legte. Die Spannung aber nahm zu, sie knisterte beinahe, wie in einem Psychofilm, wenn die Musik ins Atonale huscht. Es dauerte keine fünf Minuten, bis auch der ehrenwerte Richter Joseph Parker wieder den Saal betrat, Platz nahm, über den Rand seiner Tom-Ford-Hornbrille in die Menge blickte und sich räusperte.
Richter Joseph Parker war ein großer Freund ungewöhnlicher Opinions, insbesondere, was die Strafe anbelangte. So ließ er einen notorischen Zuschnellfahrer eine Woche lang die Autobahnpolizei begleiten und bei Unfällen die menschlichen Überreste aus den Blechschäden kratzen. Ein fremdenhassender Einbrecher wurde zu zwei Jahren Nachtwache inklusive Frühstücksservice verurteilt. In einem Flüchtlingsheim.
Gretchen Morgenthau liebäugelte mit der Todesstrafe, die sie ja nur vom Hörensagen kannte und die sicherlich eine hübsche Erfahrung, mal etwas anderes wäre. Selbst hinter Gitter hatte sie es bisher noch nicht geschafft, eine Schande für eine Gesetzlose ihres Kalibers. Das Gefängnis war ja einer der letzten mythischen Orte überhaupt, auch der Hygiene wegen. Realistisch betrachtet aber rechnete sie mit einer Geldstrafe und einem Tadel, den sie entrüstet zur Kenntnis nehmen würde. Sie wollte auch noch Schuhe kaufen und Fine zum Essen einladen. Vielleicht bei diesem neuen Italiener auf der Portobello Road, ein Geheimtipp von Victor, ihrem Friseur, der sehr schön Spitzen schneiden konnte. Erst als der ehrenwerte Richter Joseph Parker das Strafmaß vorlas, hörte sie etwas genauer hin.
»… für den gesamten Schaden aufkommen. Ferner wird die Angeklagte, Gretchen Morgenthau, zu vier Wochen auf der Insel Gwynfaer verurteilt. In diesen vier Wochen hat die Frau Intendantin mit den Bewohnern Gwynfaers ein Theaterstück ihrer Wahl zu proben und aufzuführen. Das Urteil ist rechtskräftig.« Joseph schlug ein letztes Mal mit seinem Hämmerchen.
Gretchen Morgenthau war überrascht, als sie merkte, dass sie sich nicht verhört hatte. Glauben wollte sie es trotzdem nicht. Der ehrenwerte Richter war anscheinend zu Scherzen aufgelegt. Nicht wirklich lustigen. Sie hob leicht die Augenbrauen und sagte: »Ich bitte, vortreten zu dürfen.« Sie wartete nicht ab, bis ihrer Bitte stattgegeben wurde, sie schritt nach vorne, blickte unterkühlt in des Richters Augen und fragte: »Gwynfaer?«
»Ja, eine kleine Insel in der Nähe von Island.«
»Eine kleine Insel in der Nähe von Island?«
»Ja. Genauer gesagt zwischen Island und den Äußeren Hebriden«
»Wie schön. Leider beherrsche ich keine nordische Sprache.«
»Die offizielle Inselsprache ist Englisch. Die ersten Siedler waren schiffgesunkene Schotten, danach kamen Norweger, Isländer, Finnen, Schweden und sogar ein paar Deutsche. Arne Hamsun, der Bürgermeister, ist eine ganz reizende Person. Ich habe ihn auf einer Tagung in Oslo kennengelernt. Es ging, glaube ich, um Essentials und Haftungsfallen im Erb- und Familienrecht. Arne Hamsun hat auch Jura studiert und besitzt ein erstaunliches Fachwissen.«
»Aha.«
»Die Landschaft jedenfalls soll famos sein«, geriet der ehrenwerte Richter Joseph Parker nahezu ins Schwärmen, »eine Vulkaninsel mit ungewöhnlich üppiger Vegetation. Ich habe Fotos gesehen. Ein Traum.«
»Kommen Sie mir jetzt bitte nicht mit diesem Thoreau-Emerson-Rousseau-Natur-Kitsch. Außerdem möchte ich nicht, dass ständig eine Elfe um mich herum flügelt. Ich
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