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Gretchen

Gretchen

Titel: Gretchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Einzlkind
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sprach er mit leiser Stimme, um dann umso lauter fortzufahren, »jetzt also! Das wollte ich Ihnen schon immer mal sagen, extra bin ich aus Österreich angereist, um Ihnen das mal zu sagen, dass Ihre Aufführungen eine Farce sind. Was Sie aus Kleist gemacht haben, das war eine Frechheit, ach, was sage ich, eine Unverschämtheit! Sie sind eine Dilettantin, Sie verstehen nichts vom Theater, gar nichts, und wie Sie dann noch unser Wien und uns Wiener in den Dreck gezogen haben, Sie Nestbeschmutzerin, als wären wir alle Nationalsozialisten! Ich bin Lehrer! Für Latein und Geschichte! Pensioniert. Und ich bin durchaus tolerant, wahrhaftig, da können Sie jeden fragen, Kollegen, Schüler, die Familie, jeden, aber wenn etwas zu weit geht, dann geht es zu weit und dann zeige ich Rückgrat und dann stelle ich mich vor Sie und dann sage ich, was ich von Ihnen halte, nichts halte ich von Ihnen, nichts! Wie Sie die Kunigunde interpretiert haben, eine einzige Beleidigung, eine Körperverletzung gar, eine vorsätzliche. Früher hätte man so was wie Sie, aber das darf man ja nicht mehr sagen, nein, nein, das ist ja richtig so, das darf man nicht mehr sagen, das will man ja auch nicht mehr sagen. Mein Name ist Johann Meyerhofer, nur damit Sie wissen, wer vor Ihnen steht, kein anonymer Rüpel aus dem Internet, kein gesichtsloses Buh aus dem Publikum, kein Martin Humer mit einer Schubkarre voll Kuhmist, Johann Meyerhofer ist mein Name, Lehrer für Latein und Geschichte, und Sie, Frau Intendantin, Sie sind eine Schande, jawohl, das sind Sie, eine Schande, für die Burg, für Wien, für ganz Österreich. Die Paula Wessely und die Susi Nicoletti, ja, die waren eine Zierde, selbst der Zadek, in Gottes Namen, war ja zu ertragen, Peymann und Bernhard, das war bisweilen eine Zumutung, aber Sie, Frau Intendantin, Sie waren die größte Tragödie, die jemals am Burgtheater vorstellig wurde. Und auch wenn wir Wiener die schöne Leich lieben, zu Ihrer Beerdigung gehe ich bestimmt nicht, nein, ich gehe gewiss nicht zu Ihrer Beerdigung, da kann die ganze Bagage kommen, ich, der Johann Meyerhofer, komme nicht.«
    Gretchen Morgenthau blickte hinunter. In den Abgrund. Und einen Flügelschlag lang glaubte sie, eine Raupe zu sehen, aber da war er nur wieder, der gute Mensch, wie er leibte und lebte und tapfer seine Philippika vortrug. Sie kannte ihn schon, hundertfach, mindestens, und nie wurde er müde, seiner selbst nie überdrüssig, der Gute, wie er immer so dastehen und schimpfen konnte, keine Spur von Selbstzweifel, kein Hinterfragen, nur Dasein und brechen. Wo kamen sie nur immer alle her, diese Menschen, die, sobald ihr Land, ihre Stadt, ihr Verein oder ihr Berufsstand angetastet wurden, sich sogleich persönlich beleidigt fühlten und den kleinbürgerlichen Derwisch jenseits von Nonchalance, Charme und Souveränität gaben. Das simpel Gestrickte, das nie über sich selbst zu lachen verstand, war seit jeher das größte Unglück, wie sie immer sagte. Manchmal, so dachte sie, würde es doch schon reichen, wenn die Menschen einfach etwas entspannter wären, sich nicht über jeden Kleinmist aufregen und immerzu ihre preiswerte Pappenheimermeinung hinauskrakelen würden. Nichts hatte Gretchen Morgenthau gegen famos vorgetragene Kritik, mit Chuzpe, Witz und edler Feder formuliert. Es musste nicht einmal wie Polgar oder Kraus klingen, solche Meister waren selbst unter den Professionellen kaum mehr zu finden, wo doch alles nur noch Quark war. Und doch war ihr der Johann Meyerhofer gar nicht mal so unsympathisch, sie mochte ja Menschen, die ihre Rolle zu spielen verstanden, die in sich selbst aufgingen, so ganz und gar, und dazu Lodenjacken trugen. Den gebrochenen Charakter hielt sie immer für überbewertet. Für sie war ein Buchhalter, der jedes Klischee pedantisch erfüllte, weitaus interessanter als ein Buchhalter, der plötzlich auf Opernstar machte. Das hieß nicht, dass ein Buchhalter nicht auch ein Serienmörder sein konnte. Doch morden würde er wie ein Buchhalter und nicht wie ein Metzger. Und der Herr Meyerhofer war ganz zweifelsohne ein ungebrochener Charakter. Er war ganz er selbst. Ehrlich. Durch und durch. Und da Gretchen Morgenthau der Ruf vorauseilte, in brenzligen Situationen sowohl Größe als auch Milde walten zu lassen, und da sie dank ihrer umfassenden Bildung wusste, dass der Disput in einer zivilisierten Gesellschaft nur mit Argumenten und feingeistiger Eloquenz ausgetragen wird, ja, dass physische Gewalt nur von tumber

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