Gretchen: Ein Frankfurter Kriminalfall (German Edition)
verstockten Angeklagten sei seiner Ansicht nach, die Mörderin aufs brutalste mit den Ergebnissen des Sektionsberichts zu konfrontieren.
Zustimmendes Nicken und Gemurmel bei den Herren Schöffen. Seitenblicke Verschiedener auf den unglücklichen Claudy.
Siegner gibt Lindheimer ein Zeichen. Der Examinator ordinarius erhebt sich, und jetzt wird es wieder offiziell: Die Angeklagte habe das Kind, das bei ihrer Verhaftung leider schon auf dem Weg zum Gutleuthof zum Begraben gewesen sei, noch nicht als das ihrige identifiziert. Der Schöffenrat möge darum Folgendes beschließen: Erstens, die sezierte und vergangenen Samstag am Gutleuthof beerdigte Kinderleiche sei zu exhumieren. Zweitens, die Leiche sei zwecks Identifizierung ohne vorherige Ankündigung der Angeklagten vorzulegen. Diese sei bei der Gelegenheit dann auch zu den sichtbaren Verletzungen des Kindes zu befragen. Und zwar im Beisein von dem Herrn Ratsschreiber.
Zwei Sekunden lang herrscht absolute Stille im Ratssaal.
Dann hört man ein Rascheln. Der Schultheiß Moors hebt langsam die Hand. Dann folgen ihm zögerlich drei weitere. Schließlich heben alle die Hand.
Einstimmig beschlossen im Schöffenrat, notiert der Ratsschreiber Claudy, leichenblass.
AM GLEICHEN TAG, UM DREI UHR NACHMITTAGS
IN VORBEREITUNGEN des geplanten neuerlichen Verhörs und aus Gründen der allgemeinen Sorgfalt musste die Witwe Bauerin erleben, wie der Ratsschreiberassistent Rost die Bierstube betrat und verlangte, ein gutes Licht ausgehändigt sowie den Weg zur Waschküche und zum Stall gewiesen zu bekommen. Dort hielt er sich fast eine halbe Stunde allein auf. Unterdessen hatte die Wirtin allen Grund, ihre spätestens seit der gestrigen Verhaftung der Susann wirklich arg strapazierten Nerven neuerlich anzuspannen.
Sie hatte nämlich am letzten Freitag nicht nur die Nachgeburt samt Nabelschnur unter den heimlichen Gemächern in den Mist gerührt, sondern spätabends dann doch noch in Waschküche und Stall mit viel Wasser den Boden gewischt. Das Blut beseitigt, um genau zu sein. In der Absicht natürlich, falls irgend möglich den Vorfall zu vertuschen.
Dass ihr das jetzt mal nicht zum Schaden gereicht.
FÜNF UHR NACHMITTAGS
PUNKT FÜNF wird die Gefängnistür entriegelt und die Inquisitin von mehreren Wachen zum Verhör abgeholt.
Schon wieder Verhör!
Was können die heut wollen von ihr? Heißt das, sie sind nicht zufrieden mit ihrer fast, aber nicht ganz wahren Geschichte von gestern, an die sie so gerne selbst glauben würde? Der Weg über Treppen und den Spitalhof zur Amtsstube wird der Susann unendlich lang.
Die Stube, winzig, ist voll von Leuten. Das hat sie nicht erwartet. Und dieser modrige Geruch, was mag das sein, scheußlich riecht das.
Die Soldaten bugsieren sie mit harter Hand in die Mitte des kleinen Raums, dicht heran an die Stelle, wo die Leute am engsten stehen. Die Gruppe löst sich auf, ein paar treten nach rechts, einer, der Schreiber von gestern, nach links, und vor ihr steht ein Tisch, und auf dem Tisch …
Was die Hospitalmutter Seldern sie fragt, hört sie kaum.
Gott, ist das furchtbar. Herr Jesus, ist das furchtbar. Und was ist das, Gott, was ist denn das, das war doch nicht sie, das kann doch nicht sie gewesen sein, die es so aufgeschnitten hat überall. Herr Jesus. Ihr armes, kleines, gequältes Kind.
Der Ratsschreiber Claudy (der mit dem inoffiziell anwesenden Dr. Pettmann vereinbart hat, der als Arzt möge die medizinischen Fragen stellen), kritzelt eifrig fürs Protokoll. Das lenkt ab von dem Anblick auf dem Tisch.
«Inquisitin wird bald weiß, bald rot», notiert er. «Ruft versch. Male aus: Herr Jesus, Herr Jesus. Ja, das ist mein Kind. Ich habe nicht Hand an es gelegt.»
Wie aus weiter Ferne hört die Susann eine Frage:
Wer denn dem Kind die Nabelschnur abgeschnitten habe? Das kann man also sehen, dass sie geschnitten wurde. Herr Jesus. Ihr bleibt nichts, sie muss weiter leugnen.
«Die ist abgefallen.»
Immerhin hat sie das irgendwie rausgebracht aus ihrer trockenen Kehle.
«Warum hat Sie die Wunde nicht gehörig verbunden?»
«Hab nicht gewusst wie.» Das kann es doch nicht sein, was man ihr vorzuwerfen hat. Ist das denn auch schon ein Verbrechen? Herr Jesus.
«Jetzt seh Sie sich einmal hier die braunen Flecken an im Gesicht von Ihrem Kind.»
Herr Jesus.
«Hersehen soll Sie. Seh Sie sich das an: je ein Fleck auf den Backen, einer an der Nase, einer unterm Kinn, sogar hier am Auge. Nun sag Sie uns, woher kommen diese braunen
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