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Gretchen: Ein Frankfurter Kriminalfall (German Edition)

Gretchen: Ein Frankfurter Kriminalfall (German Edition)

Titel: Gretchen: Ein Frankfurter Kriminalfall (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ruth Berger
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brillanten jungen Mann aus Frankfurt betraf. − Lebhaft empfand der Kandidat Wolfgang Goethe eine ihm ungünstige Ungleichheit im Verhältnis der Geschlechter: Einem Mädchen wird leicht verziehen, wenn es sich von einem vormals Geliebten zurückzieht; ein Mann jedoch, der dasselbe plant, ist in der peinlichsten aller Lagen und wird, was auch immer seine Gründe, vor der Welt als Schuft dastehen.
    Wie gut also, dass er nächste Woche fuhr. Mit etwas Glück dürfte die Sache, wenn er einmal in Frankfurt war, ganz schmerzlos von selbst im Sande verlaufen; die Briefe würden rarer, kürzer, weniger gefühlig … Er hatte sich freilich hier in Straßburg schon bemüht, diskret eine Abkühlung zu erreichen, hatte immer seltener Zeit gefunden, nach Sesenheim hinauszufahren. Nur dass das gute Kind diese Signale anscheinend nicht verstand oder nicht verstehen wollte.
    Wenn sie sich auch späterhin, wenn er fort wäre, so dumm stellte, nun, so musste zur Not eben aus Frankfurt einmal ein eindeutiger Brief geschrieben werden, so nach drei, vier Anstandsmonaten. Also: Aufatmen! Zwischen ihm und einer gemütlichen, erleichterten, freien Heimreise stand jetzt nur noch die Disputation.
    Und schwer würde die gewiss nicht werden. Die Opponenten bei dem öffentlichen Streitgespräch würden ja meistenteils aus seinen altbekannten lustigen Tischgenossen bestehen, Salzmann etwa oder Lerse oder Meyer, und er konnte demnach kaum durchfallen.
    Oder etwa doch?
    Ein kleines bisschen saß es ihm schon in den Knochen, dass seine zugegebenermaßen exzentrische Doktorarbeit als solche nicht angenommen worden war. Natürlich, er hatte sich ohnehin nur auf des Vaters eindringliches briefliches Zureden und unter vielem Seufzen zum Verfassen der Dissertation entschlossen; ja geradezu war es ihm lieb gewesen, dass sie nicht akzeptiert worden war und er nun, statt über seinen großspurigen und etwas irren Traktat, über einen Haufen Thesen geprüft wurde. Generalist war er ja und nicht Spezialist, es sollte ihm also leichtfallen, hier zu reüssieren. Nein, er würde ganz bestimmt nicht durchfallen.
    «Nicht träumen, junger Herr! Numéro cinquantecinq, s’il vous plaît!»
    Das war sein privater Repetitor, der Folterknecht. Wolfgang gähnte. Ob man wohl bis drei Uhr durchkäme durch die Thesen?
    Na gut, die Nummer fünfundfünfzig also: Infanticid oder Kindsmord.
    Der geplagte Kandidat seufzte, sah mit großen dunklen Augen sehnsüchtig nochmal raus auf den sonnigen Fischmarkt und begann dann lateinisch darzulegen, dass die Positionen der Doktores der Jurisprudenz in der Frage, wie mit Kindsmörderinnen zu verfahren sei, etwas auseinandergingen. Neuerdings würden nämlich Bedenken geäußert hinsichtlich der Angemessenheit der in der Peinlichen Halsgerichtsordnung Artikel 131 geforderten Todesstrafe. Ja, es werde gar ihr Nutzen bezweifelt, was die Abschreckung vor dem leider allzu verbreiteten Kindsmord betreffe. Bei gewissen aufgeklärten Herrschern werde daher schon diskutiert, ob man die Todesstrafe hier nicht abschaffen solle, wobei übrigens das Verfahren des Ertränkens der Mörderin in den meisten Ländern in praxi schon länger durch die ehrenhafte Hinrichtung mit dem Schwert ersetzet worden sei. Punktum.

OSTERN 1771
    DAS WORT Ostermesse hatte in Frankfurt mit festlichem Gottesdienst nichts zu tun. Vielmehr ging es um ein europäisches Handelsereignis erster Klasse, mit der Wirkung, dass spätestens ab Osterdienstag die Stadt das enge Korsett ihrer Festungsanlagen zu sprengen drohte.
    Diese Festungsanlagen waren übrigens, wie die Straßenlaternen, das Relikt einer Besatzung: Im letzten Jahrhundert war eines Tages der Schwedenkönig Gustav Adolf (samt Heer) vor der damals mehr schlecht als recht befestigten Stadt aufgetaucht. Man hatte sich anlässlich dessen beeilt, ihm mitzuteilen, dass Frankfurt offiziell zwar kaiserlich sei und somit katholisch, aber im Herzen natürlich protestantisch, also schwedisch, und wenn der Herr König nun unbedingt mit seinem Heer nach Frankfurt hinein und hier sein Hauptquartier aufschlagen wolle … ei, das werde man ihm doch nicht verwehren! Inoffiziell verstand man sich bestens mit dem Gustav Adolf, schenkte seiner Frau zur politischen Landschaftspflege ein protziges Juwel und ließ sich von ihrem Gatten die Messe schützen. Offiziell nannte man den Vorgang «Besatzung», damit sich der Kaiser nicht ärgerte. Allerdings ärgerten sich die Frankfurter selbst wiederum darüber, dass die Schweden sie

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