Gretchen: Ein Frankfurter Kriminalfall (German Edition)
Senckenberg geschrieben und gemeinsam mit seinem Kollegen Dr. Pettmann prozessiert mit der Forderung, den ehrlosen Gladbach zu schassen. (Wie sein Bruder Erasmus verfasste Dr. Senckenberg gern einmal eine Eingabe.) Alles ohne Erfolg, wie üblich. Auf viele seiner anderen Protestschreiben, in denen er zum Beispiel Ratsmitglieder nannte, die sich Juden als Partner im Geschäft hielten, auf die hatte er leider meist nicht einmal eine Antwort erhalten.
Und nun musste er schon wieder hinüber auf die andere Seite! Links war nämlich jetzt der Pfarrer Fresenius von der Katharinenkirche im Anmarsch, in dessen Gottesdienste Dr. Senckenberg nicht mehr ging, seit ihm klar geworden war, dass der ganze von den Pfaffen verordnete Ritus hauptsächlich deren eigenem materiellen Wohl diente und nicht etwa Gott. Was waren denn die Sakramente? Sinnlose Überreste jüdischer Gebräuche, nichts sonst. Und die Pfaffen wussten das. Viele andere wahrscheinlich auch. Wozu aber gingen die meisten Menschen in den Gottesdienst? Damit sie für fromm angesehen würden, nur deshalb! Sogar bei seinen Freunden, den Pietisten, war das so. Selbstsucht und Heuchelei beherrschten die Welt.
Seitdem er dies alles erkannt hatte, gedachte Dr. Senckenberg des Herrn einsam in seinem Herzen statt in einer Kirche und diente ihm hauptsächlich in Form guter Werke.
Von denen leider, wie gesagt, jetzt wieder eines anstand, und zwar jetzt gleich, da die Hauptwache schon in Sichtweite kam. Dahinter lugte der alte Schandesel hervor. Das wäre was, wenn man den Erasmus mal öffentlich auf den Schandesel setzte, statt es ihm in seinem Arrestzimmer allzu gemütlich zu machen. So war er ja leider noch immer obenauf und ohne jede Einsicht.
Was er auch heute wieder aufs schönste bestätigte.
Indem nämlich der Erasmus, nachdem der wachhabende Soldat die Türe seines Eckzimmers aufgeschlossen hatte, seinem geplagten Bruder händereibend, ja vor Freude beinahe hüpfend, mitteilte, er gedenke, demnächst einer liederlichen Person und Kindsmörderin als Rechtsbeistand zu dienen und sie solcherart von ihrer gerechten Strafe loszubekommen.
21. APRIL 1771
NACHDEM SIE selbst zur Nacht die Bierstube verschlossen hat, beruft die Frau Bauerin ihre beiden Mägde in die Stube. Wo sie ihnen, die bedröppelt nebeneinanderstehen, von der Bank aus eine Predigt hält: Dass sie gern alle beide behalten hätte, weil sie beide gute und fromme Mädchen seien, die ihr lange treu gedient hätten. Dass sie aber das ewige Gezänk, was immer seine Ursache, nicht mehr hinnehmen könne, weil es dem Haus schade und der Arbeit schade, und eben deshalb müsse, wie gesagt, jetzt eine von beiden gehen. Und zwar heut Abend noch.
Der Susann rutscht der Boden unter den Füßen weg. Sie hatte so sehr gehofft, die Frau Bauerin würde ihre Drohung nicht wahrmachen. Nicht, bevor noch etwas Weiteres vorfiele, nicht ohne eine Gnadenfrist. Und seit dem Ultimatum war doch außer stillem Fleiß bei ihr und der Christiane ganz bestimmt nichts zu vermerken gewesen.− Aber jetzt wird ihr natürlich klar, was sie längst hätte wissen müssen, nämlich dass dies jetzt einfach eine günstige Gelegenheit ist für die Frau Bauerin, die Susann loszuwerden, über die dieses schlimme Gerücht kursiert. Sie hört gar nicht mehr zu, was die Bauerin sagt. Sie ist ganz woanders mit ihren Gedanken.
Und dann zuckt sie zusammen, weil die Christiane neben ihr aufschreit, dass es einem durch Mark und Bein fährt, und sie ist wieder hellwach. Von Ungerechtigkeit und Gemeinheit hört sie die Christiane plötzlich reden, und wie könne die Frau Bauerin das liederliche Luder so vorziehen! Und dann hört sie die Frau Bauerin zurückgeben: «Genug, Christiane, Ihr schweigt jetzt!», und sie brauche nun mal eine gute Köchin. Die Susann, ungläubig, atmet so tief auf, als wär’ sie eben am Ertrinken gewesen.
Gott sei Dank. Gott sei Dank, sie ist wahrhaftig davongekommen.
Die Frau Bauerin händigt der Christiane Geld aus und gibt ihr nach einigem Hin und Her bis morgen früh, um zu verschwinden. Und dann bemerkt sie, sie hoffe doch, sie könne der Susann vertrauen, dass sie auch wirklich nicht schwanger sei (wobei die heftig nickt). Sie müsse sich auf sie verlassen können, weil sie nämlich plane, es zumindest bis zur Herbstmesse mit nur einer Magd zu versuchen, ob die Susann sich das zutraue? – Die nickt wieder ganz heftig.– Gut, befindet die Bauerin, damit habe sie gerechnet, es werde ein Teil der Arbeit ja
Weitere Kostenlose Bücher