Gretchen: Ein Frankfurter Kriminalfall (German Edition)
Diener
J.F. Metz,
der Arzneikunst Doktor
EIN TAG MITTE JUNI 1771
KOMPLIZIERTE TURMFRISUREN waren längst nicht mehr der letzte Schrei, sondern bei Gesellschaften eine Selbstverständlichkeit, und der über diese Entwicklung beglückte Perruquier Lobenstein kein ganz seltener Gast im Haus Zu den drei Leiern am Großen Hirschgraben. Wenigstens die Damen dieser Welt brauchten ihn noch! Wenn schon viele jüngere Herren inzwischen seine Dienste verachteten und meinten, es reiche aus, sich ihr bisschen dünnes, glattes Naturhaar rechts und links zu wellen und hinten ein Schleifchen drumzubinden.
Im Sommerhalbjahr hatte er leider etwas weniger zu tun, da zu dieser Zeit keine Bälle, Konzerte und dergleichen stattfanden. Immerhin bearbeitete er heute früh außer der Reihe den hohen, schmalen Kopf der Demoiselle Cornelia Goethe zu einem kleinen Kunstwerk. Was die junge Dame mit geschlossenen Lidern über sich ergehen ließ.
Warum auch hinsehen. Sie mochte ihr Spiegelbild sowieso nicht. Nebenbei ärgerte sie sich über ihr Herzklopfen. Lächerlich war das, sie würde ja bloß ein bisschen vor den Schanzen promenieren mit Leuten, die sie seit Jahren kannte. Nur, dass sie natürlich im Sommer sonst wenig in Gesellschaft kam und etwas die Routine verloren hatte. Heute musste es aber wirklich mal sein, sonst ging sie noch ein vor Tristesse.
Die Frisier-Prozedur fand ausnahmsweise in ihrem Zimmer statt, da unten eben der Onkel Lindheimer eingetroffen war, offenbar in Gelddingen (ging es ums Erbe vom Großvater Textor?). Das war eine etwas prekäre Situation. Denn seit Jahren stand sich der Herr Rat mit der Familie seiner Frau nicht zum Allerbesten. Prompt hörte sie auch jetzt wieder bis hier oben den Vater schimpfen. Was war er auch immer so undiplomatisch!
Als der Perruquier Lobenstein endlich fertig ist mit ihr (Gott, sie sieht furchtbar aus, entstellt geradezu. Soll sie wirklich heute ausgehen?), hört sie unten einen Wagen vorfahren. Das wird doch nicht etwa schon für sie sein? Sie ist ja noch ganz im Deshabillé! Soll sie doch lieber absagen: Ihr sei nicht wohl? − Nein. Also wirklich! Schluss mit dem Zittern und Zögern! Sie ist doch keine fünfzehn mehr.
Schnell zieht sie sich fertig an und ist bereit, als der Lakai sie holen kommt. Unten sieht sie noch schnell bei ihrem Vater rein, der schon wieder allein ist (der Onkel Lindheimer hat es offensichtlich nicht lange ausgehalten mit ihm). «Papa, ich breche jetzt auf. Sie wissen ja, ich geh heut promenieren mit den Freundinnen.»
Das sagt sie so schnell und schroff, als rechnete sie mit einem Verbot. Tatsächlich aber sagt der Herr Rat Goethe dazu gar nichts weiter, außer, die Cornelie solle hübsch aufpassen und gesund und ganz bestimmt vor Einbruch der Dunkelheit wieder zurückkommen.
Seine Tochter, die er fast schmerzlich liebte, war letzten Winter zwanzig geworden. Jedes Mal, wenn sie sich amüsieren ging, tat sie so, als trete sie jetzt aus Gefängnismauern in die Freiheit. Was er nicht ganz fair fand. Das Gefängnis, das war wohl hauptsächlich sein gut gemeintes Studienprogramm, das sie heutzutage nurmehr mit Märtyrermiene und demonstrativ schlechtgelaunt zu absolvieren pflegte. Es konnte allerdings kaum daran liegen, dass sie zum Lernen keine Lust hatte. Sie war doch so begabt und so fix im Kopf, nicht weniger als ihr Bruder, und es hatte Zeiten gegeben, da hatte sie Freude, Entdeckerdrang und Ehrgeiz beim Studieren und Üben an den Tag gelegt. Eigentlich war das sogar immer so gewesen. Na, jedenfalls so ungefähr bis in das Jahr, als der Wolfgang fort an die Universität ging.
Es wurde aber auch Zeit, dass sie sich verlobte. Eben darauf bereitete er sie ja vor!
Obwohl, um ehrlich zu sein, beizubringen hatte er ihr so viel gar nicht mehr. Eigentlich war ihre Bildung weitgehend abgeschlossen, jedenfalls was das rein Akademische betraf. Mehr davon, und sie wäre als gelehrtes Frauenzimmer verschrien und bekäme keinen Mann mehr ab. Ja, womöglich hatte er sich hier durch Übertreibung ohnehin schon versündigt. Jetzt ließ er sie zum Ausgleich drei Stunden täglich Klavier üben, allein schon um die Zeit zu füllen, aber natürlich auch, weil ein Mädchen in weiblichen Tugenden gar nicht versiert genug sein konnte. (Wolfgangs Klavierspiel war sehr mäßig, ihres war schon lange virtuos.) Er gab ihr auch viele Abschreibarbeiten. Schönschrift schadete einem Frauenzimmer nicht, und eine solche Dienstleistung schien ihm durchaus eine gute Übung für
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