Grim - Das Erbe des Lichts
Genugtuung, Rache, Macht — all das strömte durch deine Adern. Willst du das nicht wieder spüren? Du kannst es — wenn du dem folgst, der du wirklich bist. Menschen von deinem Schlag werden willkommen sein im Land des Frosts.«
Grim spannte die Muskeln an. Deutlich hatte er die Stimme der Schneekönigin gehört, die sich wie ein Flüstern um Alvarhas' Worte geschlungen hatte, und jetzt, da der Alb zu Carven hinüberschaute, meinte er, ihr Gesicht in Alvarhas' gesundem Auge aufblitzen zu sehen. In ihrem Namen hatte der Alb Carven einen Köder hingeworfen. Der Junge war ganz kurz davor anzubeißen — und Alvarhas wusste es. Er lächelte, ebenso wie die Schneekönigin in seinem Blick, und Grim sah dieses Lächeln gespiegelt in Carvens Augen. Für einen Moment befand er sich wieder in der Illusion, in der Carven seinen Stiefvater getötet hatte, sah den Jungen vor sich, fühlte die Magie, die durch seinen Körper raste, und sah die Genugtuung in seinen Augen, als der Mann starb.
Du hast ihn getötet, und du hast es genossen.
Grim sah Carven auf der Lichtung sitzen, seine Augen waren auf einmal nicht mehr klar und blau, sondern schwarz, und sein Gesicht war nicht mehr das eines Kindes. Grim erkannte den Mann, zu dem Carven einmal werden würde — den Krieger des Lichts, der die Macht haben würde, großes Leid über die Welt zu bringen.
»Nein!« Das Wort rollte wie ein Donnerschlag über Grims Lippen, als er über das Gebüsch hinweg auf die Lichtung sprang. Sofort schleuderte er einen Flammenzauber zwischen Alvarhas und Carven und umgab sich mit mächtigen Schutzwällen. Das Blut pulste durch seine Adern, als Alvarhas zurücksprang und seine Schergen drohend auf die Beine kamen. Er hörte Remis hinter sich die Luft einsaugen, Hortensius stieß einen lauten Zwergenfluch aus. Alvarhas starrte ihn an, und in diesem Moment flackerte sein Gesicht und zeigte das Antlitz der Schneekönigin, die höhnisch den Mund zu einem Lächeln verzog. Grim spürte ihren eiskalten Blick, er wusste, dass er einen Fehler gemacht hatte. Er hatte nicht warten können — er hatte die Antwort des Jungen nicht hören wollen.
Langsam kehrte das Blau in Carvens Augen zurück, die Schneekönigin verschwand. Stattdessen griff Alvarhas nach seinem Rapier — und sprang in rasender Geschwindigkeit auf Grim zu. Zischend zog er seine Waffe durch die Luft, doch noch ehe die Klinge Grims Hals berühren konnte, flog ein Schatten von rechts heran, traf das Rapier mit klirrendem Laut und schleuderte es ins Unterholz.
Atemlos fuhr Alvarhas herum, und Grim sah, dass Larvyn der Schatten gewesen war. Regungslos stand er nun in einiger Entfernung und ließ die Elfen aus der Dunkelheit des Waldes treten. Sein Blick umfasste Grim mit einer Gewalt, die ihm das Blut aus dem Kopf zog.
Verschwinde,
sagte Larvyn zu ihm in Gedanken.
Halte dich aus diesem Kampf heraus, den du nur verlieren kannst. Überlasse die Alben uns.
Wie in Trance ließ Grim sich im Dickicht neben Hortensius fallen, der ihn ärgerlich musterte. Nur langsam löste sich die Kälte, die ihn beim Blick in Larvyns Augen überzogen hatte. Atemlos schaute er auf die Lichtung. Für einen Moment schien die Szenerie einzufrieren — rechts die dunklen, schattenreichen Alben, links die lichtdurchfluteten, farbenprächtigen Elfen, die neben ihrem König Aufstellung genommen hatten. Und dann, wie auf ein lautloses Zeichen, verwandelten sie sich in ihre wahre Gestalt.
Rasch wuchsen sie bis auf Menschengröße heran. Sie standen in bronzenen Rüstungen, die Haare zu kunstvollen Zöpfen geflochten, die schmalen Gesichter mit glänzenden Streifen bemalt zum Zeichen der Wehrhaftigkeit. Auf ein Flüstern hin wurden ihre großen, zu den Seiten hin schräg zulaufenden Augen ganz und gar silbern wie geschmolzenes Blei. Grim entdeckte Rosalie in einer schimmernden Rüstung, wie sie zwei blitzende Messer in ihren Händen drehte. Ihr Blick loderte vor Wut, und Grim wusste: Diese Wesen hatten schon zahlreiche Schlachten geschlagen — daran bestand kein Zweifel.
In ihrer Mitte stand der Elfenkönig in goldener Rüstung und mit einem reich verzierten Schwert in der Hand. Sein Gesicht war schmal mit hohen Wangenknochen und einem breiten, sanft geschwungenen Mund, der sich zu einem harten Lächeln verzogen hatte. Das schneeweiße Haar fiel offen auf seinen Rücken, und in seinen Augen lag ein Flackern, das gleichzeitig Zorn und Grausamkeit war. »Untiere der Finsternis«, sagte Larvyn und fixierte Alvarhas mit
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