Grim - Das Erbe des Lichts
Jakobs Augen nicht sehen, die Schatten des Kerkers hüllten sie in Dunkelheit. Vorsichtig strich er ihr übers Haar, wie früher, als sie noch klein gewesen war.
»Ich hoffe, dass du das nie erfahren wirst«, sagte er.
Gerade wollte sie etwas erwidern, als Schritte über den Gang hallten. Schnell zogen sie sich ins hintere Ende des Verlieses zurück, und Mia schickte einen Flammenzauber in ihre Faust für den Fall, dass sich die Gelegenheit eines Angriffs bot. Zwei Feen erschienen vor dem Verlies, musterten Mia und Jakob kurz und schickten mit einer winzigen Handbewegung einen Bannzauber auf deren Stirnen, dass Mia keuchend in die Knie ging. Wie dumpfe Hammerschläge rasten die Impulse der Feenmagie durch ihren Schädel. Beinahe auf der Stelle waren ihre Sinne betäubt, und sie spürte kaum, wie sie an den Armen gepackt und mitgerissen wurde. Dumpf hörte sie, wie auch Jakob von den Feen mitgezogen wurde, hilflos wollte sie sich zu ihm umdrehen, aber ihr Körper gehorchte ihr nicht. Sie spürte die Nebel des Banns wie würgende Schlangen um ihre Kehle und musste sich mit aller Kraft zwingen, nicht das Bewusstsein zu verlieren. Sie musste wach bleiben, sie durfte nicht die Gelegenheit versäumen, Theryon zu helfen, wenn er käme, um sie zu befreien.
Unter ihr rasten die Maserungen des Bodens dahin. Immer wieder schwanden ihr für Augenblicke die Sinne. Dann drang Musik in ihre Ohren, betörende, lockende Musik, deren Klänge sie in einen tranceähnlichen Zustand lullten. Mit jedem Schritt, den die Feen mit ihr taten, kamen sie der Quelle dieser Töne näher. Bald erkannte Mia Scherben auf dem Boden, winzige Splitter, und als sie den Kopf hob, sah sie, dass sie direkt auf ein großes Tor aus Eis zuhielten — ein Tor, das zerbrochen war. Schwach pulsierte ein blutroter Schein über den Boden. Mia stockte der Atem. Der rote Kristall.
Die Musik drang nun klar und laut zu ihr, durchmischt mit dem Raunen vieler Stimmen. Mia spürte das Feuer von Kerzen auf ihrem Gesicht, als die Feen sie in den Raum zogen. Noch immer war die Kuppel zerbrochen, doch der Nachthimmel war wolkenfrei, und seine Sterne ließen ihr Licht weich wie flüssiges Silber auf den funkelnden Kristall sinken. Eine gewaltige Sanduhr stand vor den Fenstern, glutroter Sand rieselte in ihr hinab. Feen in festlichen Gewändern saßen an den reich gedeckten Tischen, die den Raum durchzogen, und dort, auf einem Podest inmitten ihrer Gäste, thronte die Schneekönigin auf einem Herrschersitz aus purem Eis. Neben ihr waren zwei Dornenpfähle aufgestellt worden, doch ehe Mia deren Sinn verstanden hatte, bemerkte sie die Gruppe farbenfroh gekleideter Musiker, die diese wundersamen Töne in den Raum sandten, und die Klänge zogen mit aller Macht an ihrem Bewusstsein. Es wäre so leicht gewesen, sich ihnen hinzugeben und mit ihnen in die fremden Träume des Feenvolkes abzutauchen ...
Angestrengt riss sie die Augen auf. Die Blicke der Feen hingen an ihr, als die Krieger sie auf das Podest zuschoben. Reglos wie eine Figur aus Eis schaute die Schneekönigin ihnen mit kaltem Lächeln entgegen. Mia zwang sich, ihren Blick zu erwidern, während sie an einen der Pfähle gefesselt wurde. Die Dornen schoben sich durch ihre Kleidung und in ihr Fleisch, aber sie biss die Zähne aufeinander, um der Königin keinen Augenblick des Triumphs zu gönnen. Für einen Moment verstärkte diese ihr Lächeln, als wollte sie Mia sagen, wie erbärmlich ein Mensch wie sie war. Dann wandte sie sich abrupt ab und erhob sich.
»Meine Freunde«, rief sie und brachte das leise Gemurmel ihrer Gäste zum Verklingen. Nur die Musik spielte weiter, leise und gedämpft. »Dies ist ein besonderer Abend — eine besondere Nacht. Denn heute werden wir den nächsten Schritt tun, um diese Welt wieder zu der unsrigen zu machen: zu einer Welt der Feen, in der die Menschen keinen Platz mehr haben. Sobald diese Sanduhr ihr letztes Korn fallen lässt, werde ich die Mächte der Feenorte rufen, die überall auf der Welt darauf warten, meinem Ruf zu gehorchen. Dann werden wir die Grenze zerbrechen und unsere Brüder und Schwestern zu uns holen, auf dass sie uns beistehen in dem Krieg, der uns erwartet!«
Der Applaus traf Mia wie ein Fausthieb in die Magengegend. Hilflos warf sie einen Blick auf die Uhr. Es war nicht mehr viel Sand übrig. Angespannt biss sie sich auf die Lippe.
Theryon,
flüsterte sie in Gedanken.
Beeil dich.
»Um uns die Wartezeit zu verkürzen, begrüße ich nun einen besonderen Gast«,
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