Grim - Das Erbe des Lichts
Nefranthio. Wiederholen Sie es dreimal — so gelangen Sie in die Welt des Spiegels!«
Mia spürte ihr Herz schneller schlagen, als sie sich selbst in die Augen schaute und tat, was der Waldwicht ihr gesagt hatte. Kaum hatte sie das Wort ein letztes Mal ausgesprochen, verschwamm das Zimmer um sie herum, und auch das Bild des Spiegels wurde grau.
Nebelschwaden umtosten sie, doch es war still, so still, dass sie ihren eigenen Atem hören konnte — und ihren Namen.
Mia.
Sie schrak zusammen. »Jakob«, flüsterte sie.
Als hätte der Name den Befehl dazu gegeben, lichtete sich der Nebel, und Mia erkannte vor sich eine am Boden zusammengekauerte Gestalt, die nun langsam den Kopf hob. Fassungslos schaute sie in das Gesicht ihres Bruders. Sein blondes Haar war zerzaust, sein Blick müde und erschöpft, und als er sie erkannte, flackerte haltloses Erstaunen über sein Gesicht. Schwankend stand er auf, und sie wäre ihm vor Freude beinahe in die Arme gefallen. Im letzten Moment sah sie das Blut an seinen Händen und die Kleidung, die zerrissen von seinem viel zu dünnen Körper hing.
Mia,
flüsterte Jakob in Gedanken.
Was tust du hier? Wie bist du hierhergekommen?
In seiner Stimme klang eine Verzweiflung mit, die Mia den Atem stocken ließ. Sie wollte etwas erwidern, doch da trat Jakob auf sie zu und schüttelte den Kopf, als wollte er seine Fragen zurücknehmen.
Das ist unwichtig,
sagte er kaum hörbar, doch in seine Stimme war eine Hektik getreten, die Mia frösteln ließ. Wo zur Hölle war sie gelandet? Geschah das alles wirklich, oder war es nur eine Illusion?
Mia,
raunte Jakob und zerriss ihre Gedanken.
Ich weiß nicht, warum du hier bist, vielleicht ist das alles eine Farce, ein weiterer Trick, nicht mehr, aber ich muss die Gelegenheit wahrnehmen. Hör mir zu: Großes Unheil nähert sich, eine Gefahr, die alles vernichten wird, wofür du kämpfst. Etwas Böses sitzt in den Schatten und lauert. Du musst ...
Da schrie Jakob auf, es war ein fast lautloser Schrei, und doch erschütterte er Mia bis ins Mark. Ihr Bruder krümmte sich zusammen, Blut rann aus seinen Augen, als er sie ansah. Sie wollte ihm helfen, doch als sie ihn berührte, durchfuhr sie ein stechender Schmerz. Erschrocken zog sie die Hand zurück, ihre Fingerkuppen waren blutig, als hätte sie sich mit tausend feinen Klingen geschnitten. Jakob stöhnte vor Schmerzen, doch auf einmal erschienen ihr seine Augen dunkler als sonst. Ein seltsamer Schatten hatte sich in seine Pupillen geschlichen, ein Lauern, das ihr Angst machte. Noch einmal schrie Jakob auf, die Finsternis in seinem Blick zerriss.
Sei wachsam!,
rief er ihr zu, doch im gleichen Moment wurde er von unsichtbaren Klauen gepackt und fortgerissen. Er verschwand im Nebel, ehe Mia auch nur die Hand nach ihm ausstrecken konnte. Allein seine Stimme klang noch zu ihr herüber und verlor sich dann in einem markerschütternden Schrei.
Sie wird kommen und ...
Verzweifelt stürzte Mia sich in den Nebel — und fiel der Länge nach in den Staub zu Hieronimus' Füßen.
»Was ist passiert?« Grim half ihr auf die Beine und packte den Trödler am Kragen. »Hast du nicht gesagt, es sei ungefährlich? Was geht hier vor?«
Der Waldwicht röchelte in Grims Faust, während die Kobolde aufgeregt um ihren Herrn herumflogen.
»Ich habe Jakob gesehen«, flüsterte Mia.
Sofort ließ Grim den Trödler fallen, der fluchend auf dem Boden landete.
»Er hat mich gewarnt«, fuhr sie fort. »Er sagte, dass etwas Böses in den Schatten sitzt und lauert.«
Grim öffnete den Mund, um etwas zu sagen, aber Hieronimus war schneller. »Wer ist Jakob?«, fragte er, während er sich den Staub von seinem Anzug klopfte.
Mia sah ihn nicht an. »Mein Bruder. Er ist ...«
»... tot?« Einer der Kobolde schaute mit ehrlichem Mitgefühl auf sie herab.
Ärgerlich sah Mia ihn an. Sie wusste zwar, dass Kobolde nicht unbedingt für ihr Feingefühl bekannt waren, aber im Augenblick stand ihr nicht der Sinn danach, Verständnis zu zeigen. »Er ist ... war ... in einer anderen Welt«, sagte sie wütend.
Hieronimus seufzte und nahm Mia den Spiegel aus der Hand, um ihn mit seinem Schnupftuch zu putzen. »Es ist nicht ungewöhnlich, dass ein Wunschglas die Ängste und Sehnsüchte des Betrachters vermischt, bis letztendlich Albträume dabei herauskommen. Wenn ich an die Geschehnisse denke, die zurzeit die Oberwelt heimsuchen, kann ich gut verstehen, dass man als Mensch überall Gespenster sieht — im übertragenen Sinn
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