Grim - Das Siegel des Feuers
einen Schrei aus, Remis griff nach der Kerze auf dem Nachttisch und sank seufzend an ihr nieder. Klara legte Grim einen Huf auf das Knie. Grim spürte ihr Lächeln, aber er achtete nicht darauf. Er sah das Mädchen an. Schnell kehrte die Farbe in ihr Gesicht zurück, ihre Lippen verheilten, und ihr Herz verfiel in einen ruhigen Rhythmus. Nach wenigen Augenblicken sank sie in einen tiefen Schlaf.
»Du hast ihr das Leben gerettet«, sagte Klara sanft.
Grim holte tief Luft. Ja, er hatte sie gerettet. Wenigstens sie. Etwas Kühles strich über sein Gesicht wie eine ferne Erinnerung, als er das dachte. Auf einmal war ihm der Raum zu klein, er ertrug den Anblick des Mädchens nicht mehr, er musste raus, nur raus. Ruckartig sprang er auf. Orgelmusik spielte in seinen Ohren, als er den Gang hinablief Er hörte, wie die anderen ihm etwas nachriefen. Augenblicke später landete Remis auf seiner Schulter. Grim raste mit seinem Fahrstuhl nach oben und warf sich in die Nacht. Pfeilschnell schoss er über die Straßen dahin, die Lichter der Stadt brannten auf seiner Haut. Remis sagte etwas, aber Grim wollte ihm nicht zuhören, wollte niemandem zuhören, auch nicht der Stimme in seinem Inneren, dieser Stimme des kleinen Pfarrers, seinem Schreien, seinem Weinen, seinen letzten Atemzügen, er wollte vergessen, alles vergessen und fort sein.
Irgendwann hörte Remis auf, ihm ins Ohr zu schreien, aber er ließ ihn nicht allein. Er hielt sich fest, klappernd vor Kälte, klammerte sich an Grims steinernes Ohr und flog mit ihm durch die Nacht, weiter und weiter, bis der Gargoyle auf einem verlassenen Feld weit draußen vor den Toren von Paris landete. Grim war erschöpft. Am liebsten hätte er geschlafen, doch die Bilder in seinem Inneren hielten ihn wach. Mit einem tiefen Atemzug ließ er sich aufs Feld sinken, den Kopf den Sternen zugewandt, und schloss die Augen.
»Du hast sie gerettet«, sagte Remis nach einer Weile. Sein grünes Licht dämmerte durch Grims steinerne Lider. »Verdammt, Grim!«
Das Licht wurde heller. Plötzlich wurde eines von Grims Augen aufgerissen, und das wütende Gesicht eines Kobolds starrte ihn an. Ärgerlich setzte Grim sich auf und wischte Remis beiseite wie eine zu groß geratene Mücke.
»Ohne dich wäre sie gestorben.« Remis landete auf Grims Knie und schüttelte sorgenvoll den Kopf. »Aber du darfst das alles nicht an dich herankommen lassen! Mir ist nicht entgangen, wie du das Mädchen angesehen hast, ich muss nichts darüber wissen, aber ich sage dir: Die Menschen sind es nicht wert, dass ...«
Grim wich seinem Blick aus. »Manche sind es wert«, unterbrach er ihn leise.
Remis ließ den Kopf sinken. Seine Arme hingen von seinem Körper hinab, als könnte er sie nicht mehr bewegen. »Tatsächlich?«, erwiderte er. »Sind sie es wert, dass Wesen wie du — Wesen wie wir — bis in alle Ewigkeit um sie trauern, wenn sie uns verlassen haben?« Seine Stimme war sanft, kaum hörbar gewesen, und doch trafen die Worte Grim mit einer Wucht, die ihn husten ließ. Remis flog auf seine rechte Klaue, sodass Grim ihn ansehen musste. »Das sind Menschen, Grim! Sie sind sterblich. Und das werden sie immer bleiben. Du gehörst nicht in ihre Welt, so wie sie nicht in deine gehören. Das hast du schon einmal erfahren.«
Remis sagte noch mehr, doch Grim hörte seine Worte wie durch Watte.
Der Blick des Mädchens war ihm gefolgt, ihre Augen, ihre Stimme, er hörte den Schuss, er sah Jakob in den Staub fallen, er hörte die Worte von Monsieur Pite,
Es war etwas in der Luft, wissen Sie,
wieder und wieder sagte er das, bis Grim das Gesicht in den Klauen verbarg und weinte. Kristallene Tränen fielen in die dunkle Erde, und aus seinem Körper drang ein Ton, als würden Gebirge auseinanderbrechen. Remis hatte sich auf seine Schulter gesetzt, klein und zusammengesunken hockte er dort und hielt Grims Ohr umklammert, ein winziges grünes Licht auf einem obsidianschwarzen Felsen.
Kapitel 20
och ehe Mia die Augen öffnete, spürte sie das weiche Kissen an ihrer Wange. Ein zäher Schmerz puckerte in ihren Schläfen. Es war dunkel um sie herum, nur ein flackerndes rotes Licht zeichnete die Umrisse des Zimmers nach, in dem sie sich befand. Dunkle Regale mit Unmengen an Büchern standen an den Wänden, sie selbst lag in einem Himmelbett. Das rote Licht fiel durch ein filigranes Bleiglasfenster. Mühsam setzte sie sich auf. Erinnerungen zogen durch ihren Sinn, sie sah die Hybriden, die sie auf dem Friedhof umringt hatten,
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