Grim
freundlich. »Ich weiß, was ich von Euch zu erwarten habe. Dennoch ist es erstaunlich, dass es den Lord der Vampire nicht kümmert, wenn Verus nach der Macht greift – nach allem, was die Kinder des Zorns Eurem Volk angetan haben.«
Ein Raunen ging durch die Menge, doch ein Blick des Lords genügte, um jede Regung zu ersticken. Er drehte den Kelch in seiner Hand. »Es kümmert mich nicht, wer das Zepter über die Anderwelt in seiner Faust hält«, erwiderte er. »Es hat mich nicht mehr gekümmert seit jenen Tagen, da mein Volk diesen Anspruch verlor. Sollte Verus sich gegen uns wenden wie einst bei den Aufständen Prags, werden wir ihn in seine Schranken weisen. Doch er wird diesen Fehler nicht noch einmal begehen. Sein Zorn richtet sich gegen die Gargoyles, die meinem Volk nebenbei bemerkt in früheren Zeiten nicht weniger zugesetzt haben als die Car’lay Ythem.« Er hielt kurz inne. »Diese Angelegenheit ist keine Sache der Vampire. Lyskian mag sich involvieren, wenn ihm der Sinn danach steht, doch mein Volk hat noch nie für andere Kriege geführt. Wir haben die Herrschaft der steinernen Köpfe akzeptiert, aber wir werden nicht unser Blut dafür vergießen, dass wir auch weiterhin unter ihrer Faust stehen.«
»Noch haben wir keinen Krieg«, sagte Grim und fixierte den Lord mit kaltem Blick.
Bhragan Nha’sul lächelte kaum merklich. »Du sagst es, Präsident der OGP . Noch nicht.«
Da hob Lyskian die Hand. »Wir sind nicht gekommen, um die Vampire in die Schlacht zu führen. Wir sind gekommen, weil wir ihren Rat und ihre Weisheit brauchen.« Der Lord sah ihn an, doch er schwieg. Ein Glimmen hatte sich in seinen Blick geschlichen, das Mia nicht deuten konnte. »Wie Ihr wisst, ist Verus mitsamt seiner Schergen spurlos verschwunden«, fuhr Lyskian fort. »Wir haben keine Möglichkeit, ihn zu finden, geschweige denn, ihn zu bezwingen, es sei denn … « Er zögerte kurz. »Nur ein Jäger könnte uns helfen.«
Verächtlich lehnte der Lord seinen Kopf an die Lehne des Throns und schaute aus halb geschlossenen Augen auf Lyskian herab. »Die Jäger sind verschwunden, das solltest du wissen. Niemand weiß, wo sie sind, auch ich nicht. Überdies wäre es für eine sehr lange Zeit mehr als gefährlich gewesen, eben dieses Wissen zu besitzen. Niemand hier hat Thoron bereits vergessen. Ich erinnere mich gut an die brennenden Leiber der Vampire, die er hinrichten ließ aus Verblendung, Furcht und Hass.«
Grim ballte die Klauen, doch er sagte kein Wort. Auch Lyskian schwieg in angemessener Haltung, aber Mia bemerkte erneut den unheilvollen Schatten, der in seinem Blick aufflammte und ihm für einen Augenblick etwas Getriebenes verlieh. Er hatte befürchtet, eine solche Antwort zu erhalten, das fühlte sie, und sie begriff, dass er den Weg hatte vermeiden wollen, den er nun gehen musste. Die Dunkelheit in seinem Blick ließ sie frösteln. Schließlich hob er den Kopf, und als müsste er sich gewaltsam dazu bringen, trieb er die Worte über seine Lippen: »Dann erbitte ich den Zugang zur Bibliothek des Corax.«
Mia stockte der Atem. Lyskian hatte ihr von diesem Ort erzählt, diesem Sammelsurium uralter Bücher, Pergamentrollen, Manuskripte und auf Häuten und Steintafeln verewigten Grimoiren, dessen Räume gewaltig waren wie Kirchenschiffe und in dem das ewige Dämmerlicht der Ersten Stunde herrschen sollte, jenes Augenblicks, da die Welt aus der ersten Idee des Kosmos geboren wurde. Ein verwunschener Ort war es, ein Ort der Flüche und Gefahren, und sie brauchte nur Remis anzuschauen, der mit merklichem Graustich auf Grims Schulter hockte, um zu wissen, dass diese Bibliothek von allen Völkern der Anderwelt mit angespannter Faszination und niemals ohne Furcht betrachtet wurde.
Der Lord hob den Blick, kalter Zorn zog sich in seinen Augen zusammen und färbte sie dunkel. »Dort ruht dämonisches Wissen. Es ist nicht für gargoylsche Belange bestimmt.«
»Mein Lord, ich … «, begann Lyskian, doch Bhragan Nha’sul ballte die freie Hand zur Faust und schlug sie donnernd auf die Lehne seines Throns. Die Knochen hielten ihm stand, als wären sie aus
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