Grimes, Martha - Inspektor Jury 17 - Die Trauer trägt Schwarz
demi-monde verleihen.«
Wo schnappte Carol-Anne eigentlich diese Wörter auf? Wenn sie sich in ihrer arbeitsfreien Zeit im Friseursalon von Tony & Guy herumtrieb? Amüsant daran fand er, dass es so veraltete Ausdrücke waren.
»Also, wenn Sie mich fragen, Sie brauchen kein neues Flair. Mir gefällt das alte und Ihr Haar ganz besonders.« Sie hatte wunderschönes Haar - nicht grau, nicht weiß, sondern platinblond. »Aber vielleicht finden wir ja alle unser Aussehen manchmal langweilig.«
»Kommen Sie rein, Mr. Jury, kommen Sie rein. Ich lasse Sie hier in der Kälte stehen.« Mit einer resoluten Geste, als wollte sie ihn in voller Gänze umfassen, winkte sie ihn in die Wohnung. »Ich wollte sowieso, dass Sie sich mal meinen Baum ansehen. Ich habe gerade Teewasser aufgesetzt. Sie bleiben doch auf ein Tässchen Tee.«
»Danke, sehr gern.« Er sah ihr nach, während sie in die Küche ging und wandte den Blick dann zu dem Baum hinüber. Mrs. Wasserman war schon immer gleichermaßen Christin wie Jüdin gewesen. Er erinnerte sich, wie unangenehm ihr dies schon vor Jahren gewesen war, als handelte es sich um etwas, was weder Christen noch Juden gutheißen könnten. Jury hatte den Eindruck, dass ihre Mutter gar keine Jüdin gewesen war, was beide Eltern aber nicht vor dem Konzentrationslager bewahrt hatte.
Der Baum war genau so schön, wie Carol-Anne gesagt hatte. Weiße Lichter blinkten hinter schimmerndem Lametta, Watteschneeflöckchen sahen erstaunlich wirklichkeitsgetreu aus, und ein großer silberner Stern spiegelte sich glitzernd im Licht. Unter dem Baum lagen mehrere Geschenke, eingewickelt in eine Art Papier, das er schon lange nicht mehr gesehen hatte, mit kleinen Figuren, die auf Teichen Schlittschuh liefen, ganzen Familien, die um den Weihnachtsbaum standen, Leute, die Weihnachtslieder sangen. Das Papier war in matten Rot-, Braun- und Grüntönen gehalten. Nichts glitzerte, nichts funkelte. Zwischen den mattfarbenen Päckchen stand eine kleine Krippe, und er ließ sich in die Hocke nieder, um sie näher zu betrachten. Die kleinen Holzfiguren, darunter die Heiligen Drei Könige und das Kamel, hätten fast in seiner Hand Platz gehabt. Lamm, Ziege und Hund standen so da, wie sie hingehörten.
Er fühlte sich auf einmal zurückversetzt ins Jerusalem Inn, jenes Pub in der Nähe von Durham, und zu dem kleinen Mädchen -hatte sie nicht Chrissie geheißen? Ihre Puppe hatte die Rolle des Jesuskinds spielen sollen. Weil das Chrissie nicht gepasst hatte, hatte sie die Puppe immer wieder herausgenommen. Szenen strömten auf ihn ein - jenes Weihnachten damals in Old Hall, Helen Minton, die weite Meeres- und Strandlandschaft in Sunderland. Er wurde plötzlich überflutet von Erinnerungen, konnte wegen des scharfen, stechenden Schmerzes kaum atmen. Es war lächerlich, absurd! Er wollte lachen, bekam aber nicht genug Luft, und der Schmerz wurde durch die Anstrengung nur noch schlimmer. So durfte es aber doch nicht enden. Während er überlegte, ob ihn das Gewicht der Erinnerungen einmal umbringen würde, atmete er nur ganz flach. Atemzüge, die kaum bis ans Zwerchfell reichten. Gott, wie benommen er sich fühlte: würde er womöglich ohnmächtig werden? Er rührte sich nicht. Der Schmerz hörte ebenso plötzlich auf, wie er eingesetzt hatte.
Er zwang sich, die Augen zu öffnen, betrachtete die Krippe und wartete, bis er wieder klarer im Kopf wurde, seine Gedanken sich ordneten. Der Schmerz, dachte er, hatte so rasch und unvermittelt eingesetzt, dass es nichts Ernstes sein konnte. Er hockte immer noch vor der Krippe. Beim Gedanken an Chrissie fiel ihm Gemma ein, Gemma in der Dunkelheit draußen im Gewächshaus, das Gewächshaus selbst hell erleuchtet, Licht, das sich unter dem Fenster sammelte, Schatten, die wie Hausgespenster bedrohlich aufragten.
»Hier kommt der Tee, Mr. Jury. Ich habe meinen Weihnachtstee von Fortnum & Mason gebrüht.« Als er nicht gleich antwortete, fragte sie: »Alles in Ordnung, Mr. Jury?«
Sie legte ihm behutsam die Hand auf die Schulter, während er noch in der Hocke saß.
Er richtete sich vorsichtig auf. »Schon gut, Mrs. Wasserman, ich habe bloß Ihre Krippe bewundert.« Er nahm die Tasse Tee entgegen, die sie ihm hinhielt.
»Wissen Sie, die habe ich schon seit meiner Kinderzeit. Ich weiß, es hört sich unglaublich an, dass ich sie durch alles, was damals passiert ist, gerettet habe. Im Lager habe ich sie so aufbewahrt - vorn in meinen Kleidern, Maria unter meinem Schal, die Heiligen Drei
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