Grimes, Martha - Inspektor Jury gerät unter Verdacht
lassen sich auf Spickzettelniveau herab.«
»Ganz recht. Haben Sie eins über die erste Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts?«
»So etwas führe ich nicht. So etwas unterstütze ich nicht. Hier.« Er gab Melrose ein kleines Buch. Guide to the Lake
District von William Wordsworth. »Eines der bekannteren Bücher über die Seen.«
»Ein Reiseführer? Brauche ich einen Reiseführer?«
»Offensichtlich ja«, sagte Theo gouvernantenhaft und durchforstete seine Regale. »Hier ist der West. Das heißt, Thomas West«, fügte er hochnäsig hinzu und sprach den Namen aus, als sei sein Kunde geistig minderbemittelt. »Aber ich glaube, Wordsworth bezieht sich in seinem Buch darauf.«
»Geben Sie es mir. Das tut’s auch. Da ist eins über Dorothys Briefe. Das können Sie mir dann auch noch einpacken.«
Theo spitzte die Lippen. »Der West ist eine Seltenheit. Und teuer.«
Melrose stöhnte und zückte sein Scheckheft.
Zweiter Teil - Die Agonie des fetten Mannes
»Verdammt noch mal, ich tue mein Gebiß rein, wenn es mir paßt«, sagte Adam Holdsworth zu einer der geschmackvoll gekleideten Schwestern, die zum Personal in Castle Howe gehörten.
Schwesterntrachten gab es hier nicht, doch Schwestersprache redeten sie immer noch. »Aber, aber, Mr. Holdsworth«, sagte Miss Rupert in ihrem einschmeichelndsten Ton, »wir sind doch so hübsch mit unserem Gebiß.« Miss Rupert tat ihr Bestes, ihre Mundwinkel zu einem winzigen Lächeln zu verbiegen.
»Sie vielleicht, Miss Rübe, aber ich nicht.«
»Mein Name ist Rupert, wie Sie sehr wohl wissen.« Das schiefe Lächeln verschwand. »Ihre Zähne, Mr. Holdsworth -«
»Herr im Himmel, ich bin neunundachtzig und sehe aus wie Yorick, der arme, frisch aus dem Grab. Jetzt nehmen Sie mir mal die Blutdruckmanschette ab und gehen Sie mir aus dem Weg!« Sie war dünn wie eine Bohnenstange, aber wenn sie einem das Handgelenk umklammerte, hatte man das Gefühl, man trüge Handschellen. Er löste die Bremse an seinem elektrischen Rollstuhl, und Miss Rupert mußte beiseite springen.
Nichts im Namen von Castle Howe (etwa ein Zusatz wie »Pflege-« oder »Senioren«heim) trübte das Bild von grandiosen Ausblicken und luxuriösen Einrichtungen, das die Broschüre zu vermitteln suchte. In gewissem Sinne war es natürlich beides, es gab etliche Krankenschwestern, zwei Ärzte, die stundenweise hier arbeiteten, und zwei Psychiater, die rund um die Uhr da waren und am meisten von allen zu tun hatten, weil die Möglichkeiten, sich anderweitig zu unterhalten, vernachlässigbar waren. Aber die Angestellten trugen keine Kittel oder Uniformen, sondern schlichte, teuer geschneiderte Alltagskleidung. Man tat alles, um die »Gäste« (niemals »Patienten«, ob sie platt aufs Gesicht fielen oder »friedlich« im Schlaf verschieden) - das heißt, ihre Gedanken von Krankheit fernzuhalten, egal, ob harmlos oder tödlich.
Rein zufällig (schien es) waren alle, die in Castle Howe einzogen, sechzig und älter, oder, wie Mrs. Colin-Jackson, die Besitzerin und Leiterin, es ausdrückte, im »besten Alter«. Mit dieser Floskel pflegte sie die potentiellen »Gäste« von Castle Howe zu beschreiben. Und diese wohnten nicht in einfachen »Zimmern«, sondern in »Suiten«, die mit einer Nische ausgestattet waren, in der sich ein Kühlschrank, eine Teemaschine und ein Kessel befanden. Die »Suiten« waren nicht numeriert, sondern trugen Namen, die etwas mit dem kulturellen Erbe des Lake District zu tun hatten: »Wordsworth«, »Coleridge«, »De Quincey« (in dieser Suite wohnte Adam Holdsworth, der sich bemühte, dem Namen alle Ehre zu machen, indem er das Zimmer mit Zigarren vollqualmte - Opium war schwer zu bekommen) sowie »Bums« und »Scott«, also sogar die Namen schottischer Dichtergrößen.
Es war schwer, Castle Howe ohne den extensiven Gebrauch von Kursivierungen zu beschreiben. Anzeigen in The Lady, Country Life und gelegentlich der Times versicherten potentiellen Kunden eine phantastische Szenerie und eine prächtige Ausstattung. Begriffe mit dem Stigma von Pflege- oder Seniorenheim wurden vermieden. Sowohl die Anzeigen als auch die Broschüre waren von Mrs. ColinJackson kunstvoll entworfen worden und richteten sich offensichtlich an die Gutbetuchten, die ihre reichen alten Mamis und Tantchen und Omis dort abladen wollten, einerlei, ob sie es nur noch zwei Monate oder noch ganze zwei Jahrzehnte machen würden.
Die Farbbroschüre zeigte einen Salon und ein mit Antiquitäten vollgestopftes Musikzimmer, komplett
Weitere Kostenlose Bücher