Grimes, Martha - Inspektor Jury gerät unter Verdacht
Hände unter dem Kinn verschränkt und dachte nach. »Ich weiß nicht, vielleicht hilft ihm irgendeine Art von Therapie.«
»Bei Ihnen?«
»Nein!« Ihre Stimme klang laut durch den Abend. »Nicht bei mir. Das würde Alex eh nicht machen. Wichtig ist«, sie sah Melrose scharf an, »daß er einen Freund hat. Ich weiß nicht genau, warum Sie hier sind, und es geht mich auch nichts an. Es ist mir egal -«
(Das hatte ihm gerade noch gefehlt.)
»- aber außer Adam hat er in dieser Familie niemanden, dem er vertraut. Adam kann ihn nicht beschützen. Er braucht jemanden, der zur Familie Holdsworth überhaupt keine Beziehung hat, jemanden, der nicht an Geld interessiert ist. In dieser Familie gibt es zu viele >Unfälle<, verdammt noch mal.«
»Sie glauben nicht, daß es Unfälle waren.«
Sie dachte ein wenig nach. »Grahams Tod war Selbstmord, das ist sicher. Er hat einen Abschiedsbrief hinterlassen ...« Sie hielt inne. »Könnte ich eine Zigarette haben? Ich habe vor zwei Monaten aufgehört, aber ich glaube, jetzt ist es langsam mit meiner Willenskraft vorbei.«
Melrose gab ihr mit einem zerkratzten Aluminiumfeuerzeug, das er in der Schreibtischschublade gefunden hatte, Feuer. »Verflixt!« sagte sie, ballte die Hand zur Faust, hielt sie an die Wange und drehte sich von ihm weg. Plötzlich, aber nur ein paar Sekunden lang, flossen Tränen. Sie schnappte nach Luft. »Er war für kurze Zeit mein Patient. Das ist kein Geheimnis. Graham hat die Scheidung schwer zu schaffen gemacht.«
»Fühlen Sie sich schuldig?«
»Ich hätte es ahnen müssen. Es war nicht sein erster Selbstmordversuch; Jahre vorher hatte er schon mal versucht, sich die Pulsadern aufzuschneiden. Er war einfach ein selbstzerstörerischer Mensch. Trotzdem meine ich, ich hätte es verhindern können. Eins kann ich Ihnen sagen: Seine Beziehung mit Madeline ist an etwas anderem zerbrochen. Es lag nicht an Jane.« Sie rauchte in wütenden kleinen Zügen. »Diese Legende habe ich ganz besonders satt. Aber Madeline glaubt vermutlich daran.«
»Es hat wohl keinen Zweck, Sie zu fragen, woran es gelegen hat.«
Sie schüttelte den Kopf.
»Sie wissen, daß Sie womöglich Informationen haben, die der Polizei helfen würden.«
Wieder schüttelte sie den Kopf.
Melrose seufzte. »Ich will ja nicht unverschämt wirken -«
»Ich bin Unverschämtheiten gewöhnt.« Sie lachte. »Und Schlimmeres.«
»Sie haben gesagt, es habe in dieser Familie zu viele Unfälle gegeben. Aber die erste Mrs. Holdsworth -«
»Virginia? Die Polizei gab sich mit der Auffassung zufrieden, daß es ein Unfall war. Aber vielleicht hat Francis sie ja gestoßen.« Sie lächelte beinahe. »Ich kann mir aber andererseits nicht vorstellen, daß Francis etwas Gewalttätigeres tut, als von einer Leinwand zur anderen zu rennen.«
»Annie Thale.«
Helen sah ihn durch die Rauchspirale an. »Annie Thale war kein Mitglied dieser Familie.«
Einen Moment lang schwieg er. »Und Millie?«
Ihr Blick war mindestens so scharf wie der abgebrochene Stiel des Kristallglases. »Sie überlegen, ob Graham Annies Geliebter war und Millies Vater? Und ob sie über seinen Selbstmord so untröstlich war, daß sie diesen Ausweg wählte?«
»Offensichtlich haben Sie auch schon daran gedacht.«
»Nein. Die Polizei hat das gedacht. Aber es stimmt nicht.«
»Woher wollen Sie das so genau wissen?«
Sie warf die Zigarette in den Nebel. »Weil ich es eben weiß.« Sie seufzte. »Als Annie >stürzte<, und das so bald, nachdem sie ihn im Pförtnerhäuschen gefunden hatte, hm ... wenn Sie zwei und zwei zusammenzählen, können Sie sich vorstellen, daß die Polizei auch da mißtrauisch wurde. Selbst auf die Gefahr hin, daß ich die ärztliche Schweigepflicht verletzt hätte, was soll’s. Ich hätte nicht zugelassen, daß das Gerücht in Umlauf kam, und trotzdem war es in Umlauf. Wenn sie ein Verhältnis gehabt hätten, hätte ich es gewußt. Er redete über sie, ja. Sie fühlte sich von ihm erotisch angezogen, aber das war einseitig. Graham war ein rundum unglücklicher Mann, aber auch sehr anziehend. Er war freundlich und sanft und extrem durcheinander, weil er aus seiner Ehe herauswollte. Ich habe Ihnen nichts erzählt, was nicht schon alle wissen. Abgesehen von seiner Beziehung - oder besser Nichtbeziehung - mit Annie Thale. Und das ist wirklich eine Leerstelle! Nicht weil er mir nichts erzählt hat , sondern weil es da nichts zu erzählen gab. Ich bin eine verantwortungsbewußte Ärztin. Darauf habe ich mein Leben
Weitere Kostenlose Bücher