Grimes, Martha - Inspektor Jury gerät unter Verdacht
Dorchester oder Ritz sein.
Melrose fragte sich, wer den Wein ausgesucht hatte. Es hätte ihn nicht im geringsten überrascht, wenn auch das Millies Aufgabe gewesen wäre. Aber anscheinend war der Schlüssel zum Keller in Hawkes’ großen Händen, und er wählte selbst aus oder folgte Genevieves Anweisungen. Es gab drei Weingläser - eins für den weißen, eins für den roten, eins für den Dessertwein -, die auf ein richtiges Diner hinwiesen, was es ja dann auch wurde, obwohl die Zusammenstellung der Gerichte ungewöhnlich war. Sie wurden mit allem verwöhnt, was einst geschwommen, gehüpft oder geflogen war.
Als Vorspeise gab es eingelegte Silloth-Gamelen, sodann eine Wildmousse, die so locker war, daß sie einem auf der Zunge zerging. George Holdsworth versicherte ihnen, daß der Fasan ein paar Wochen abgehangen, die Ente erst gestern vom Himmel geschossen und dem Perlhuhn heute morgen der Hals umgedreht worden war (so tönte er jedenfalls). Die Mousse spülten sie mit einem superben Chablis Grand Cru hinunter.
Jetzt lauschten sie beim Hasenragout der Geschichte über die Pirsch auf das listige Tier. Den Großteil dieses Berichts verpaßte Melrose nur allzugern, um sich voll auf den Château zu konzentrieren, der zu diesem Gang kredenzt wurde. Es war ein 55er Château Lafite-Rothschild. Wenn das kein Beweis für die Erlesenheit der Holdsworthschen Weinbestände war! George wurde höfliche Aufmerksamkeit gezollt, sein Jägerlatein sogar mit Erleichterung aufgenommen. Kingsley und Fellowes waren schon halb betrunken angekommen; Kingsley wurde betrunkener, Fellowes nüchterner.
Madeline saß aufmerksam und ruhig neben Melrose. Eher gelangweilt beteiligte sie sich an der Unterhaltung über Crabbes Buch.
Die Sitzordnung hatte Genevieve vor einige Probleme gestellt, weil mehr Männer als Frauen geladen waren. Sie war aber so vernünftig gewesen, Alex neben seinen Urgroßvater zu setzen, dessen Rollstuhl strategisch günstig zu ihrer Rechten plaziert war. Aber es gelang ihr nicht, Alex oder Adam ins Gespräch zu ziehen, und mit Adams Freundin Lady Cray, die entschlossen schien, den Mund zu halten und nur zuzuhören, erging es ihr auch nicht besser.
Adam Holdsworths Freundin faszinierte Melrose. Sie war einfach eine ganz besondere - und geheimnisvolle - Frau. Sie war elegant und extrem intelligent, dafür sprach, daß sie es vorzog, in fremder Gesellschaft zu schweigen. Sie pflegte sich auf eigentümliche Weise den Arm über die Brust zu legen, so daß die Hand leicht über die Schulter fiel. Als gebe sie einem Boten Informationen nach hinten, der sie dann wegzauberte. Im Licht der Kandelaber konnte Melrose das Glitzern ihrer Augen und die pechschwarzen Perlen ihrer Pupillen kaum sehen. Dennoch hatte er das Gefühl, daß sie ihn mit ihren Blicken zu durchbohren schien. Sie schaute abwechselnd zu ihm hin und wieder weg. Er konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, daß sie (ebenso wie Millie) wußte, daß er nicht der war, der er zu sein vorgab.
Zu seiner Überraschung war ihm der Platz links von Genevieve zugewiesen worden, ihm, dem bebrillten Bibliothekar mit dem steifen Hals. Beim Mousse begriff er, daß sie ihn zwar nicht umwerfend attraktiv, aber als Neuling zumindest interessant fand. Als nächstes fiel ihm auf, daß auch Genevieve ihm auf der Spur sein mußte, denn sie hatte seinen Wolle-Seiden-Anzug wiederholt eingehend gemustert. Man konnte das Schildchen aus dem Armani nehmen, aber man konnte die Handschrift Armanis nicht aus einem Armani nehmen, und Genevieve Holdsworth war alles andere als blind gegenüber Mode. Ihr cremefarbenes Abendkleid aus Viskose war auch nicht von der Stange, soviel war sicher. Warum hatte er geglaubt, der Norden sei das Land der Vogelscheuchen, ein Ort, wo die Frauen nur Musselin und Regenmäntel und Gummistiefel kannten? Oder wo man einen leger geschnittenen Anzug einfach für ausgebeult hielt? Was war er nur für ein mieser Schnüffler.
An der Sitzordnung störte ihn nur, daß Dr. Helen Viner ganz am anderen Ende des Tisches neben Crabbe Holdsworth saß. Die beiden hatten ein interessantes Gespräch über den künstlerischen Schaffensprozeß (ein Abfallprodukt von Crabbes kurzem Kommentar über »Kubla Khan«) geführt, dem Melrose mit halbem Ohr zugehört hatte, weil er zu sehr damit beschäftigt gewesen war, herauszufinden, was ihn an ihr so anzog. Genevieve war erotischer, Madeline hübscher. Aber Dr. Viner gehörte zu den seltenen Menschen, bei denen man sofort das Gefühl
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