Grimms Erben
durch die er in den Hinterhof eines großen Wohnhauses gelangte. Diese Toreinfahrt beschrieb einen Bogen, der einem Mund glich, welcher das Wort »Komm!« formte. Dieser architektonischen Aufforderung folgend, stürmte er auf ein Hinterhofgebäude zu. Eine intuitive Fluchtbewegung: Er stieg auf den Fenstersims einer Etagenwohnung. Von dort kletterte er mit wenigen geübten Handgriffen an der Regenrinne hoch auf einen Balkon und stieg durch eine zerbrochene Glastür in eine Wohnung. Angst, dass er dabei vom Hausbewohner erwischt werden würde, hatte er nicht. Ebenso wenig wunderte er sich über die zerbrochene Fensterscheibe. Durch die Einfahrt hallten hastige Schritte in den Hinterhof. Und zwei Stimmen.
»Nusser, du Arschloch, bleib stehen.«
»Schneller, Sauckel. Schneller.«
Der letzte Satz wurde gegen Ende leiser und verdeutlichte, dass sich Ignaz’ Verfolger von ihm entfernten. Ignaz setzte sich an einen Küchentisch, auf dem ein zerbrochenes Kaffeeservice lag. Kaffee war keiner da. Wie nicht anders zu erwarten war. Aber der Hunger, der kam nun langsam. Ignaz wusste, dass das ein Problem werden würde.
Dabei wollte er ursprünglich nichts sehnlicher, als einfach nur Geschichten erzählen. Falls er das hier überleben sollte, dann hatte er eine Geschichte, die zu erzählen sich lohnen würde.
Auf dem Tisch lag eine alte, zerknüllte Zuckertüte. Mit angefeuchtetem Zeigefinger kratzte er die Reste aus den Ecken. Das süße Kristall bitzelte auf seiner Zunge, hatte aber nur einen Effekt: Er wollte mehr davon. Das Stechen in der Magengegend kam zurück. Die körperlichen Anstrengungen der letzten Tage forderten ihren Tribut. Dennoch verharrte er an diesem Tisch in einer, wie ihm die geblümten Tapeten vorgaukelten, heilen Welt des Rückzugs. Als würde sich eine Glasglocke über ihn stülpen, ihn schützen vor Eindringlingen und Boshaftigkeiten. Hier zu verweilen erschien ihm für einen kurzen Moment normal. Ohne mit der Wimper zu zucken, griff er sich den Wasserkrug, der wohl für Gesichtswäsche am Spülbecken stand, und leerte ihn mit einem kräftigen Zug. Er schraubte am Wasserhahn. Es pfiff und braune Tropfen fielen. Mehr Trinkwasser musste er woanders finden.
Er kramte sein Schreibbuch samt Stift aus dem Sack und ließ seine Verfolger draußen weiter durch die Gassen hetzen.
»Wenn etwas so wichtig ist wie atmen und essen, dann schreiben«, ermutigte er sich. »Trost, bitte.«
Seine Geschichten und skurrilen Märchen, die er fabulierte, waren ihm immer ein Schutz vor der gerade zu lauten, zu schnellen, zu unmenschlichen Umwelt gewesen. Die Märchen zeigten Wirkung und trösteten ihn, bevor er überhaupt traurig war.
Nun war er aber traurig. Sein Plan schien nicht aufzugehen, die Erfüllung seines Vorhabens war so weit entfernt, dass es schier aussichtslos erschien. Obwohl er mit einem euphorischen Gefühl den Tag begonnen hatte, nahm ihm die soeben unterbrochene Hetzjagd langsam den Mut. Nun saß er in einer verlassenen Küche und hinterfragte den Sinn seiner Odyssee. Diese von Beginn an als Flucht deklarierte Reise für etwas, das vielleicht gar nicht existierte. Seine beiden Zeigefinger berührten sich am Nasenrücken, seine Hände wie zum Gebet gefaltet. Ignaz empfand seine matten Gedanken genauso erdrückend wie seinen kraftlosen Körper.
»Raffael Krupp. Wo steckst du nur? Du und deine verfluchte Maschine.«
Rückgängig machen, schoss es ihm widersinnig in den Kopf. Alles rückwärtslaufen lassen. Das Rad der Zeit, vielleicht sogar so weit, dass dieses Weltunheil, in dem sich alles befindet, verhindert werden könnte. Seine Beine schmerzten, und als er im Sitzen an sich hinabsah, fiel ihm auf, dass aus dem löchrigen rechten Hosenbein ein nackter Fuß ragte. Er hatte nur einen Schuh an. Glatt vergessen.
»Verdammter Mist.« Ungläubig musste er lächeln. Eine mimische Kapitulation. Bevor er sich nun in einem Anflug von Verzweiflung zu verlieren drohte, fuhr er mit den rauen Handflächen über das vor ihm wartende Papier.
Trotz seiner mehr als ungünstigen Situation, in der er sich wusste, musste er jetzt und in diesem Moment ein Phantasiegebilde errichten, in das er verschwinden und das ihn dann wieder gestärkt in die reale Welt entlassen würde. Er musste atmen. Er musste phantasieren. So war das.
Und er musste seinen Willen wiederfinden.
Rückwärtsland
VERWUNDERLICH, ABER DOCH
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Als Henry, ein Jüngling aus dem Lande des edlen Robert, nach langer,
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