Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Grimms Erben

Grimms Erben

Titel: Grimms Erben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Florian Weber
Vom Netzwerk:
zwei Leselupen aus einem Warentisch für Ramschartikel und hält sie sich vor die Augen. Sie hinkt in gebückter Gangart um die beiden Kolleginnen, die Augen hinter den Lupen schielen riesenhaft hervor. Wieder versucht sie Lochers Stimme zu imitieren: »Hohoho, Frau Cernak, Sie haben da aber zwei mächtig dicke Dinger in Ihrem Ausschnitt hängen. Soll ich da mal hingreifen?« Die Cernak fasst sich schützend an den Ausschnitt. »Iiiihhhh, welch schlimme Vorstellung. So ein Lüstling aber auch. Der wohnt hinten am Wald in dem komischen Fischgebäude. Kein Wunder, dass der immer so stinkt. Das Haus müsste mal richtig ausgeräuchert werden, das sag ich euch.«
    Die drei Discounterfrauen überschlagen sich vor Lachen. In Lochers Kopf überschlagen sich die Dinge. Wie oft hat sie ihm Signale der gegenseitigen Sympathiebekundung gesendet? Die vielen lieben Worte aus ihrem schönen Mund an ihn gerichtet, die zwischen all den Spitzbuben, den Karamalzen und weiteren Waren an sein Ohr drangen – nichts als Schall und Rauch? Nichts als Irreführungen? Die grausame verbale Hinrichtung fährt fort. Locher kniet unter den Kräuterbeuteln und muss sich auf allen vieren gegen eine durch bitterste Enttäuschung aufkeimende Ohnmacht stemmen. Lochers Herz explodiert. Glinda Cernak, die gute Hexe des Nordens, verwandelt sich in die böse Hexe des Westens. Ihre Boshaftigkeit, ihr hinterhältiges Schurkentum, ihre infame Verleumdung treiben Locher Tränen in die Augen. Sogar ihre Haut färbt sich durchs Kräuterregal grün, wie von Margret Hamilton im 1939 verfilmten »The Wizard Of Oz« dargestellt. Margret Hamilton füllte nur eine Rolle aus. Die Cernak füllt Lochers Herz mit Eis. Mit Schwermut. Mit Enttäuschung. Mit Wut. Und mit Zorn. Vor allem mit Wut. Und vor allem mit Zorn.
    C – DAMOKLES’ FABRIK ODER
DIE VERTREIBUNG AUS DEM PARADIES
    Als er verspätet in die Umkleidekabine der Fabrik kommt, sind seine Tränen nur noch getrocknete Salzkristalle. Sie ziehen zwei weiße Fäden durch sein verheultes Gesicht. Es sieht aus, als wäre es in drei Teile geteilt.
    »Locher, was kommst spät, ha?« Öner Cicek, der von Locher unbemerkt den Raum betrat, feuert einen Handschuh auf Lochers Körper und trifft ihn im Genitalbereich. Locher zuckt kurz zusammen. Luft stößt hastig aus seinem zum O geformten Mund. Er bedeutet seinem türkischen Kollegen, er komme gleich. In der Tür dreht der sich noch einmal um:
    »Äh Locher? Übrigens am Samstag im Schwimmbad mit Untahose, oda was? Hast gerudert in der Luft, hm?«
    Locher ist müde. »Lass mich in Frieden.«
    Doch der Frieden kehrt nicht ein. Auf dem Weg zu seiner Buchbinder-Wirkungsstätte wartet offenbar die ganze Abteilung auf sein Erscheinen. Fast ein Spaliergebilde, als ob er das jetzt brauchen könnte.
    Nach einigen provokanten Sätzen, die Locher zu überhören weiß, kommt eine Art normales Arbeitsgefüge ins Halbrollen. Fast ist es so, als ob die Arbeit in seinem Kabäuschen sein Gemüt erhellt. Allerdings nur kurz, da der Gedanke an den Supermarktvorfall wieder aufkeimt. Die Cernak: Er konnte sich doch nicht derart in einer Person täuschen. Über viele Jahre die Grundessenz eines Menschen verkehrt deuten. Die Liebe seines Lebens. Die einzige Liebe. Vom weiblichen Geschlecht ließ er sich all die Jahre nicht beirren und nicht verwirren. Kein noch so schönes Mädchengesicht konnte ihn in der Jugend behelligen, keine noch so reizvolle Frau in der Adoleszenz ihm die Schuhe ausziehen. Im übertragenen, aber auch direkten Sinn. Tatsächlich war er noch nicht verliebt. Die einzige Verführung in seinem Leben sind Märchen. Aber die Cernak- Locher schnalzt mit der Zunge – die Cernak würde er vom Fleck weg heiraten. Und zwar für immer.
    Wieso sagt sie nur solche Sachen? War sie betrunken? Sie muss besoffen gewesen sein. Oder einfach nur kindisch?
    Betrunkene und Kinder sagen die Wahrheit.
    Ich muss mich verhört haben. Ich glaube das nicht.
    Je mehr er sich Cernaks Verhöhnungen wegdiskutiert, desto deutlicher wird ihm ihre Abneigung vor Augen geführt.
    Bitte lass das nicht geschehen sein.
    Ihm ist zum Flennen. Und übel.
    Er will das wie ein Zauberer ungeschehen machen oder gar eine Umkehrung daraus meistern? Sie soll ihn lieben, Grimm und Ingrimm !
    Während er die schmerzhafte Erfahrung zu verdauen versucht, blitzt das Damoklesschwert auf!
    Er durchquert gerade gedankenverloren mit einem Lastenkarren Abteilung vier, im Schlepptau fünfundzwanzig fertiggebundene »Bestiarien von

Weitere Kostenlose Bücher