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Grimms Erben

Grimms Erben

Titel: Grimms Erben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Florian Weber
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René Weigl, Martin, Breitner, Sven Keulerts, Manni, Öner Cicek und wie sie alle heißen, versichern Hans Berger, die Schuld liege bei »dem dummen August«.
    Berger vehement:
    »So, Locher, mir reicht’s mit dir. Deine Spektakel habe ich mir lange genug angesehen. Schon wieder können wir durch dein Ungeschick die teuer produzierten Bücher wegwerfen. Diese Ware ist kostbar, verstehst du das nicht? Deine Papiere holst du dir auf der Stelle. Dein Gebaren ist nicht mehr tragbar, deine Kinkerlitzchen und Ausfälle stecken das Arbeitsklima laufend in Brand. Jede Woche mindestens einmal Unruhe und Aufregung. Und deine andauernden Hirngespinste mit Märchen und Geschichten. Zum Kotzen! So geht das nicht! Und wenn du denkst, du bist davor gefeit hinauszufliegen, weil dein Großvater schon hier gearbeitet hat… du kannst dir sicher sein, der Schering ist sicher nicht begeistert, wenn du laufend seine Produktionen manipulierst.«
    Manipulation — ganz genau!
    Berger hält kurz inne. »Außerdem blutest du den ganzen Boden voll.«
    Hans Berger verschwindet mit einem »Und ihr macht’s gefälligst weiter!« aus der Halle.
    Die Versammlung löst sich träge auf. Die Schar der Judasraben flattert auseinander.
    »Na, Locher? Ich hab doch gewusst, dass ich dich irgendwann erwische. Endlich bin ich dich los, du Bastard. Mir stinkt nur, dass ich dich nicht bewusstlos geschlagen habe. Lass dich nie wieder in meiner Nähe blicken. Nie wieder, beschissener Einzelgänger.«
    Blind tastet Locher nach den zerbrochenen Brillenteilen und nach dem heiligen Eustachius. Er braucht mehrere Sekunden, um zu begreifen, was soeben geschehen ist.
    Man hat ihm seinen geliebten Job geraubt. Ihm seine Verantwortung und Aufgabe entzogen. Sein Glück genommen. Das Herz zum zweiten Mal am Tag herausgerissen. Eine Welt bricht für ihn zusammen. Seine Welt. Das will er nicht begreifen.
    Locher bringt seine Wirbelsäule in aufrechte Haltung. Es knackt wie nervöse Holzdielen. Sein Kopf dröhnt und ist hellrot vor Zorn, Wut, Enttäuschung und Verbitterung.
    Er putzt sich mit dem Ärmel Panzers Speichel, das Blut, das Öl und die Reste der Exkremente aus dem Gesicht. Ihm ist, als ob er damit all die Erinnerungen an sein Paradies aus seinem Gedächtnis wischt. Seine Papiere holt er nicht.
    D – LOOPING INS WATERLOO
    Locher verspürt tiefstes Leid. Falls man sich einen apokalyptischen Tag vorstellen möchte, es wäre ein Abbild des heutigen. Mit einem zerhackten Herzen, mit einer zerbrochenen Würde, mit einem zerschundenen Körper, mit allen Flüchen der Märchenwelt belegt, mit allem Übel von Grimm bis Perrault übersät, wankt er Richtung Heimat. Es ist eine Trauerfahrt. Locher ist ein Seelenloser. Ein radelnder Zombie. »Ride of the Dead. Dead Man cycling.« Falls Regisseure, Autoren oder Musiker Inspiration für eine Geschichte über ein gescheitertes Individuum suchen: Bitte sehr, hier ist sie. Das Leben des August Locher.
    Die Zeugen dieser Trauerfahrt reagieren unterschiedlich. Sigi Wagner, der Uhrmacher, lacht kurz auf, als er ihn vorbeirollen sieht. Elektromeister Wehmeyer deutet einen Scheibenwischer, bis seine Zigarre wackelt. Die Jugendbande am Marktplatz, sicher, wie immer, Handys raus und Film ab. Karl Rettig, der die Swinegelstraße entlangtrottet, bringt sogar Empathisches: »Wussten Sie eigentlich, dass Sie scheiße aussehen?«
    Locher nimmt nichts von alledem wahr.
    »Ich verfluche dich!« Schrill, unbändig laut, aus dem Nichts ertönend und den gepeinigten Schädel messerscharf durchschneidend, hupt Frau Kowalski aus dem Rollstuhl ihren verbalen Schutzreflex. Hinzestraße, Höhe Frau Kowalskis Haus.
    Locher, gedankenverloren und in sich gekehrt, reißt es dermaßen stark aus seiner Apathie, dass er, obgleich in einer langsamen Fahrtgeschwindigkeit, vor Schreck einen Sturz verursacht. Zeitlupensturz, keine Frage unglücklich, aber tatsächlich: Er verreißt beim Ertönen des hexengleichen Ausrufes der querschnittsgelähmten Kowalski die Lenkstange, steuert gegen den Bordstein, lenkt zur Erhaltung der Balance ruckartig gegen und blockiert dadurch das nun querstehende Vorderrad. Abgang über die Lenkvorrichtung. Ein Zeitlupenlooping. Er knallt ungeschützt mit dem Gesicht auf den Asphalt. Im Hintergrund schallt fortwährend ein krächziges »Ich verfluche dich!«, während er versucht, die Situation in einen zeitlichen Ablauf zu bringen. Egal, die Chronik des Sturzes. Es tut wieder weh. Sehr weh. Wieder läuft Blut, diesmal auch an den

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