Grisham, John
misstrauisch. Er trug seine
Standarduniform in Weiß - ausgebleichte Jeans und flatternde Hemdschöße -, und
darüber etwas, das wohl eine Art Talar sein sollte, aber eher wie ein Bettlaken
aussah. Sein einziges Zugeständnis an den Ernst des Anlasses war eine
Baskenmütze aus schwarzem Leder, die auf seinen wallenden grauen Locken thronte
und ihm eine frappierende Ähnlichkeit mit einem alternden Che Guevara verlieh.
Er weinte während des gesamten Gottesdienstes und vergoss mehr Tränen als die übrigen
Angehörigen der bornierten, stoischen Trauergemeinde zusammen.
Kyle vergoss keine Tränen, obwohl ihn der sinnlose Tod Baxters tieftraurig
machte. Während er neben dem Grab stand und den Eichensarg anstarrte, war er
nicht in der Lage, an die schönen Zeiten zu denken, die sie zusammen erlebt
hatten. Er war viel zu sehr damit beschäftigt, darüber nachzudenken, was er
hätte anders machen sollen. Genau genommen ging es darum, ob er Baxter von dem
Video hätte erzählen sollen, von Bennie Wright und dessen Leuten. Doch wenn er
es getan hätte, wäre Baxter sich dann der Gefahr bewusst gewesen und hätte sich
anders verhalten? Vielleicht. Vielleicht auch nicht. In seinem Bestreben, mit
seiner Vergangenheit ins Reine zu kommen, wäre er vielleicht durchgedreht, wenn
er gewusst hätte, dass er bei dem, was er mit Elaine gemacht hatte, gefilmt
worden war. Er hätte vielleicht unter Eid ausgesagt und sich gedacht: zum
Teufel mit den anderen. Was unmöglich vorherzusehen gewesen wäre, weil Baxter
nicht rational gedacht hatte. Und es war genauso unmöglich, jetzt noch
Spekulationen darüber anzustellen, denn selbst Kyle hatte nicht gewusst, wie
gefährlich das Ganze war.
Jetzt
wusste er es.
Ungefähr einhundert Trauergäste scharten sich um das Grab und drängten sich aneinander,
um die letzten Worte des Pfarrers zu hören. Vereinzelte kalte Regentropfen
beschleunigten das Procedere. Ein dunkelrotes Zelt schützte den Sarg und die in
der Nähe sitzende Familie vor dem Wetter. Kyles Blick wanderte über die vielen
Grabsteine, unter denen die Mitglieder der alteingesessenen, reichen Familien
Pittsburghs begraben waren, bis zu dem gewaltigen Tor am Eingang des Friedhofs.
Auf der anderen Seite der Mauer wartete eine ganze Horde von Medienleuten wie
die Geier darauf, etwas vor das Objektiv zu bekommen, das man in die
Nachrichten bringen konnte. Mit Kameras, Scheinwerfern und Mikrofonen im
Anschlag waren sie von der Polizei und Mitarbeitern eines privaten
Sicherheitsdienstes von der Kirche ferngehalten worden, doch sie hatten den Trauerzug
verfolgt wie Kinder, die einer Parade hinterherrannten, und jetzt warteten sie
begierig auf die Gelegenheit, ein Foto des Sargs oder der Mutter zu schießen,
die weinend am Grab zusammenbrach. Irgendwo zwischen den Presseleuten war
mindestens einer von Bennie Wrights Leuten, vielleicht auch zwei oder drei.
Kyle fragte sich, ob sie eine Kamera hatten, nicht um den Sarg abzulichten,
sondern um festzuhalten, wer von Baxters Freunden sich die Mühe gemacht hatte,
an der Beerdigung teilzunehmen. Im Grunde genommen, waren das natürlich
nutzlose Informationen, aber andererseits ergab so vieles von dem, was Wrights
Männer unternahmen, keinen Sinn.
Doch sie wussten, wie man tötete. Daran bestand kein Zweifel. Die State Police
hatte immer noch nichts zu sagen, und je mehr Zeit verstrich, desto deutlicher
wurde, dass ihr Schweigen alles andere als freiwillig war. Es gab einfach keine
Beweise. Ein sauberer Auftragsmord, ein lautloser Schuss, eine schnelle Flucht
und absolut kein Motiv.
Bruder Manny, der am Rand des Zelts saß, heulte laut auf, was die
Trauergemeinde aus dem Konzept brachte. Der Pfarrer geriet kurz ins Stocken,
dann leierte er weiter seinen Text herunter.
Kyle starrte die Reporter auf der anderen Seite der Mauer an, die so weit weg
waren, dass er ihre Gesichter nicht erkennen konnte. Doch er wusste, dass sie
da waren, dass sie zusahen, warteten, wissen wollten, was er, Joey und Alan
Strack, der von der Ohio State University hergefahren war, jetzt unternahmen.
Die vier WG- Bewohner, die jetzt nur noch zu dritt waren.
Als der Pfarrer zum Ende kam, waren ein paar Schluchzer zu hören. Dann wich die
Menge langsam von dem roten Zelt zurück und entfernte sich zögerlich vom Grab.
Die Beerdigung war vorbei. Baxters Eltern und sein Bruder verloren keine Zeit
und gingen sofort. Kyle und Joey blieben zurück und stellten sich für einen
Moment neben den Grabstein
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