Große Kinder
Kindergemeinschaft einzugliedern, von der sie ausgeschlossen wurden, verlangt von den Erwachsenen viel Fingerspitzengefühl. Man kann keinem Kind »befehlen«, ein anderes Kind anzunehmen oder sich gar mit ihm anzufreunden. – Es ist erstaunlich, wie oft Eltern und manchmal auch Lehrer von Kindern regelrecht verlangen, dass sie sich mit einem Kind anfreunden sollen oder es zumindest in ihren Freundeskreis aufnehmen müssen. Das ist eine Vergewaltigung der natürlichen Bedürfnisse und führt letztlich nur zu Heuchelei und Aggression. Zu oft vergessen Erwachsene, dass bei Kindern noch mehr als bei Erwachsenen Gefühle herrschen, denen mit »Vernunft« nicht beizukommen ist. Toleranz ist eine menschliche Errungenschaft, die man zwar lernen kann, die aber auch reifen muss.
Erwachsene helfen Außenseitern in der Regel am ehesten, wenn sie nicht direkt in das Gefüge der Freundschaften eingreifen, sondern indem sie die Merkmale und Eigenschaften des ausgegrenzten Schülers aufgreifen, die ihn
nicht
von den Altersgenossen unterscheiden. Oft begehen Lehrer dabei aber den Fehler, die besonderen Vorteile und Fähigkeiten des ausgegrenzten Schülers herauszustreichen, um ihn den Klassenkameraden als Freund schmackhaft zu machen. Sie bewirken damit natürlich genau das Gegenteil.
Wenn Kinder merken, dass der andere gar nicht »anders« ist, und wenn ihre Clique den Außenseiter nicht mehr braucht, um sich abzugrenzen, werden sie ihn in einer neuen Gruppenzusammenstellung ganz natürlich mit eingliedern. Kinder, die von Erwachsenen darin unterstützt werden, ihre Außenseiterrolle zu ertragen, anzunehmen und sich nicht unentwegt dagegen aufzulehnen, werden sie am schnellsten wieder los, weil sie zumindest von den Erwachsenen erfahren haben, dass sie nicht weniger wert sind als alle anderen Kinder, sondern im Gegenteil dazu in der Lage sind, eine besonders schwierige Situation zu meistern.
Julia hat eine angeborene Stoffwechselstörung und darf kein Mehl essen. Das bedeutete für sie früher, dass sie zu jedem Kindergeburtstag ihre Reiskekse (»Styroporkekse«) mitbringen und zusehen musste, wie die anderen Kinder ihre Kuchen und Torten aßen. Alle Kinder sahen ihr an, dass sie darunter litt, aber sie beklagte sich nie, sondern bedankte sich stattdessen immer ganz ehrlich, dass sie trotzdem zur Geburtstagsfeier eingeladen worden war. Allmählich sickerte Julias »Behinderung« bei den Eltern der Klasse durch und ein Kuchenrezept mit Mandeln oder Nüssen statt Mehl machte unter den Müttern die Runde. Zunehmend gab es bei den Geburtstagsfeierndiesen besonderen »Juliakuchen«, der zum absoluten Hit bei den anderen Kinder wurde. Trotz ihrer Krankheit, durch die sie immer »anders« war als alle anderen Kinder, war und blieb Julia in ihrer Klasse beliebt. Ihre Krankheit konnte sie zwar nicht loswerden, aber ganz unverkrampft war sie der Rolle des Außenseiters entkommen, weil es ihr – mit Hilfe der Erwachsenen, besonders ihrer Mutter – gelungen war, ohne viel Aufhebens die anderen Kinder in ihre Krankheit zu integrieren.
Monika ist Diabetikerin. Auch sie brauchte bei Kindereinladungen besondere Kost und bekam ganz selbstverständlich immer ihre Diabetikerkuchen oder -kekse. Monika aber bestand nicht nur darauf, dass die Gastgeber etwas Besonderes für sie vorbereitet hatten, sondern auch darauf, dass diese »Extrawürste« ihr ganz allein gehörten, nach dem Motto: Ich bin schließlich krank und dafür steht mir ein besonderer »Trost« zu. Anfangs war sie in ihrer Klasse integriert. Allmählich aber ging den Klassenkameraden ihre »Angeberei« mit der Diabetes auf die Nerven und sie wurde zur Außenseiterin.
Es gibt Persönlichkeitsmerkmale, die den Kontakt zu Gleichaltrigen blockieren können und die nicht so einfach zu überspielen sind. Dazu gehören zum Beispiel deutliche Intelligenzunterschiede, die tief verwurzelte Prägung durch den familiären Erziehungsstil, das soziale Milieu oder die kulturellen Normen, in denen ein Kind aufgewachsen ist. Diese Unterschiede spüren Kinder noch stärker als Erwachsene.
Ebenso wie für Erwachsene ist aber auch für Kinder die natürlichste und menschlichste Form, der Einsamkeit zu entkommen, sich Gleichgesinnte zu suchen. Kindern, die isoliert sind, weil sie innerhalb ihrer Klassengemeinschaft oder ihres Wohnumfeldes wirklich etwas »Besonderes« sind, hilft es daher am besten, wenn Erwachsene sie darin unterstützen, ein»passendes« Kind mit ähnlichen
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