Grote, P
wird gerade wieder ein Politiker geopfert, damit die anderen weitermachen können, so wie bei Ceauşescu. Sie wollen eine Amnestie für die Vergangenheit und die Zukunft, damit sie machen können, was sie wollen.«
»Und wie sind Sie zu dieser Pension gekommen?«
»Hier stand früher das Haus meines Onkels, dahinter war ein Hektar Land, einen Hektar durfte man behalten, beim Wein nur einen halben.«
»Und das haben Sie dann bebaut?«
»Mein Onkel ist abgehauen, ist heimlich geflohen, so wie viele Deutsche aus der DDR. Er verschwand vor fünfundzwanzig Jahren. Niemand hat ihn jemals wieder gesehen, er wollte über die Donau, wissen Sie? Ceauşescus Grenzer haben auf die Flüchtigen geschossen, sie haben gefasste Flüchtlinge totgeprügelt, in der Donau ertränkt oder sind mit ihren Schnellbooten drübergefahren. Viele sind am serbischen Ufer der Donau begraben. Auf jedem Friedhof gibt es wenigstens eine Reihe von Gräbern, in denen Opfer dieser Mörderbande liegen. Wir sind da hingefahren, wo mein Onkel über die Grenze wollte, und haben versucht zu erfahren, ob in der fraglichen Zeit jemand begraben wurde. Niemand wusste was Genaues, und auf den verwitterten Holzkreuzen steht lediglich auf Serbisch »Name unbekannt«. Was wollen Sie da machen? Nichts.«
Der Koch bemerkte erst jetzt, dass Martin aufgegessen hatte. »Möchten Sie Nachtisch? Früchte kann ich Ihnen anbieten und
cremă de zahăr ars,
ich weiß nicht, wie das auf Englisch heißt, ich hol’s Ihnen.«
Er kam kurz darauf mit einer Karamellcreme im Plastikbecher zurück, eine Supermarktware, die Martin nach der Lektüre der Säuerungsmittel und verwendeten Chemikalien nicht zu probieren wagte. Er entschied sich für
struguri,
mit den Weintrauben konnte er mehr anfangen.
Das Thema des verschwundenen Onkels erinnerte Martin an das, was ihm Sofia und Lucien von ihrem Vater erzählt hatten, und er versuchte sich vorzustellen, wie er sich damals verhalten hätte. Wahrscheinlich wäre er nicht sehr alt geworden, nicht weil er offen protestiert hätte, sondern mit seinem ausgeprägten Eigensinn schnell an Mauern, Stacheldraht und Gleichschritt gescheitert wäre. Diese Systeme hatten nur das Schlechte im Menschen gefördert.
»Sie kommen aus einem demokratischen Land«, sagte der Koch, der für Martin und sich einen Espresso gemacht hatte und im Stehen trank. »Sie haben das, was man Sozialismus nennt, nie miterlebt, nebenbei gesagt, weiß ich gar nicht, was Sozialismus wirklich bedeutet. Glauben Sie, dass Kapitalismus und Demokratie sich vertragen?«
Martin entfernte gewissenhaft die Kerne aus den Weintrauben, bevor er sie aß. Er wollte erzählen, wie er seinen Betrieb führte, wie er vor wichtigen Entscheidungen verschiedene Meinungen einholte und abwog. Charlotte überließ ihm die Entscheidungen beim Wein, in geschäftlichen Fragen mussten sie Einigkeit erzielen. Waren ihre Eltern und einer ihrer Weinberge betroffen, dann entschieden sie zu viert. Gerade als er ansetzte, davon zu erzählen, zuckte er zurück, seine Tarnung als Consultant wäre aufgeflogen. Und darauf vertrauen, dass der Koch nichts weitersagte, war zu gefährlich. So wie mit ihm redete er mit allen.
»Nein«, sagte er und schüttelte langsam den Kopf, »ichglaube, das verträgt sich nicht. Ein Konzern kauft den anderen auf, alle streben zum Monopol, so wie jede politische Partei die Opposition vernichten will, um allein zu regieren. Jede Kirche hält sich für die allein selig machende. In der Wirtschaft werden Kartelle gebildet, oder es geht um die marktbeherrschende Stellung. Das ist Krieg. Und Sie? Wie entscheiden Sie?«
»Ich muss meinen Leuten sagen, was sie tun sollen, sonst tun sie nichts. Und lernen wollen sie auch nicht. Sie träumen aber davon, was Großes zu sein.« Er wies auf den Wachmann, der im Türrahmen der Pension stand und auf die dunkle Straße schaute. »Ich stelle mir nachts den Wecker und gehe runter, um ihn zu wecken. Demokratie funktioniert nur, wenn die Leute Verantwortung übernehmen. Wer will das schon? So, ich muss abwaschen. Gute Nacht. Wann frühstücken Sie? – Ach, übrigens, es gibt wirklich nur einen Gott!« Er wies auf das Kreuz an der Wand. Martin erinnerte es an das auf Ana Cristinas Busen.
Das Städtchen war dunkel, um die wenigen Straßenlaternen vor den Gartengrundstücken flatterten Insekten, von Fledermäusen gejagt, alles schien friedlich, eine Kleinstadt wie Hunderte in Europa. Unter der Laterne links gegenüber der Pension stand
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