Grün. Le vert de la Provence
Vidal, nachdem das Gespräch beendet war.
Der Alte stand auf und kramte in einem Stapel von
Papieren. „Östlicher oder westlicher Luberon?“
„Östlich!“ Luc war zu ihm getreten und besah sich die
Kartenauswahl. „Die drei reichen“, sagte er und griff nach Detailkarten des Institut
Geographique National , die aneinandergrenzende Flächen darstellten, in
denen neben allen Straßen und Wegen auch Höhenlinien und jedes einzelne Haus
eingetragen waren. Er breitete die Karten auf dem Boden aus und kniete sich
davor.
„Auf der Suche nach euren Verdächtigen?“, fragte
Guillaume.
„Oder potenziellen Opfern!“ Vidal beugte sich vor und
zeichnete auf den Karten mit dem Finger eine Route nach, die vom Plateau in
Mäandern durch überwiegend grün dargestellte Waldflächen führte und schließlich
eine Nationalstraße traf. Sein Finger verharrte auf einem Ort. „Da sitzen sie
jetzt schon seit einiger Zeit in einem Bistro und palavern. Scheinen es nicht
eilig zu haben. Nachdem ich sie am letzten Tatort verlassen habe, sind sie zwar
kontinuierlich in diese Richtung gefahren, aber sie haben bereits kurz hinter
dem Tatort angehalten. Da sind sie auch ausgestiegen und hatten wohl einige
persönliche Probleme zu klären. Und in diesem Ort haben sie wieder Halt
gemacht. Sitzen da und quatschen. Bei Kaffee und Mineralwasser. Danach gab’s
Whiskey. Zweimal haben sie telefoniert. Einmal sie und einmal er.“
„Ihr wisst wahrscheinlich auch bereits, mit wem und
worüber? Und ob sie den Kaffee mit Milch oder nur mit Zucker trinken?“, fragte
Guillaume missbilligend. „Mein Sohn ist zwar auch bei der Polizei und erläutert
mir immer wieder, wie notwendig diese Überwachung sei, aber so richtig
gutheißen kann ich das eigentlich nicht.“
Vidal zuckte mit den Schultern. „Wir können es aus so
edlen Motiven, wie du sie hast, nicht darauf ankommen lassen, dass es einen
weiteren Mord gibt.“
Guillaume seufzte und ging zu seinem Stuhl zurück. „Ist
die Exkursion in die Vierziger vorbei?“
Luc kratzte sich kurz an der Schläfe, bevor er sich von
den Karten abwandte. „Absolut nicht. Mich interessiert, was damals passiert
sein könnte, dass heute möglicherweise noch Verbrechen nach sich zieht.“
„Die Tage der Drachenreiter …“, Guillaume atmete tief
durch, strich sich mehrmals über die Nasenflügel um danach ausgiebig sein Kinn
zu befühlen.
„Drachenreiter?“
„Ach, das ist nur mein Oberlehrergeschwätz! Das englische
Dragoon steht ja für Dragoner und es gibt eine Interpretation, dass sich der
Begriff vom Lateinischen draconarii ableitet, der Bezeichnung für die
römischen Lanzenreiter, die eine Dracostandarte mit dem Symbol des Drachen
trugen.
Ursprünglich hatte die Landung der Alliierten in der
Provence allerdings gar nicht den Codename ,Dragoon‘, sondern ,Anvil‘, also
Amboss, passend zu der Operation Hammer in der Normandie, die dann aufgrund der
Verzögerungen in ,Overlord‘ umbenannt wurde. Churchill hat diese Änderungen
durchgesetzt.“
„Danke für die Geschichtsstunde. Also, erzähl mir etwas
von diesen Tagen der Drachenreiter!“
„Na ja, das ist jetzt sechzig Jahre her. Ich habe diese
Zeit zwar auch miterlebt, aber eben fast noch als Kind. Ich weiß nur, dass die
Libération hier in der Provence sehr schnell vor sich ging. Nach der Landung
der Alliierten im Juni in der Normandie zogen die Deutschen im großen Umfang
Verbände aus dem Süden ab. Das schwächte sie hier, weswegen sie sich zunehmend
aus den Gebieten zurückziehen mussten, die von der FFI , den Forces
Françaises de l’Intérieur , und de Gaulles verlängertem Arm in Frankreich,
der Armée secrète, beherrscht wurden. Der zu erwartende Beginn der
Operation Dragoon brachte für die Deutschen dann eine weitere Verschärfung der
Lage. Die Widerstandsbewegung wuchs und wurde täglich stärker, zudem konnten
sie auf die Unterstützung durch die Bevölkerung zählen. Auch die Mobilmachung
der verschiedenen militärischen Organisationen der Befreiungsbewegung
verstärkte sich. In aller Öffentlichkeit. Es gab genaue Anweisungen über
Einberufung, Bekleidung, Bewaffnung, Besoldung oder Familienunterstützung. Das
Ganze war nach militärischen Grundsätzen vorbereitet worden.“
„Warum dieser organisatorische Aufwand?“
„Die Einhaltung militärischer Gesichtspunkte sollte
bewirken, dass die FFI von den Deutschen als reguläre Kriegsteilnehmer nach der
Haager Landkriegsordnung anerkannt und behandelt
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