Grün wie ein Augustapfel
Schlüsseln aus der Hosentasche.
»Drei Schubladen«, murmelte er, »da sollte man wissen, wo... Ich fange einmal bei der mittleren an. Medio tutissimus ibis.«
»Laß die blöden Witze«, knurrte Gregor.
»Halt mal die Lampe, Werner«, befahl Walter, »aber sei ein bißchen sparsam mit dem Strom. Der Akku ist zwar frisch aufgeladen, aber ich weiß nicht genau, wie lange er vorhält. Ich kann auch nach dem Gefühl arbeiten.«
Er setzte sich in den lederbezogenen Armstuhl und begann sein Werk. Gregor mußte ihn bewundern, denn Walters Hände waren vollkommen ruhig. Ihm selber zitterten die Finger, und er sah, daß auch der Strahl der Taschenlampe in Werners Hand Kringel um das Schloß malte, in dem Walter mit steinerner Ruhe kleine Schlüssel mit verschieden geformten Bärten einführte und sacht herumzudrehen versuchte.
»Chubbschloß nennt man so was«, erläuterte er sachkundig, »mit drei Zuhaltungen, schätze ich. Solche Fabrikschreibtische sind selten mit einer raffinierten Sperrung ausgerüstet.« Er setzte den sechsten oder siebenten Schlüssel an. Werner ließ die Lampe erlöschen. Und plötzlich gab es das schnappende Geräusch, mit dem der Riegel ins Schloß zurücksprang.
»Licht«, befahl Walter mit heiserer Stimme.
Der schmale Lichtkegel schoß in die offene Schublade hinein und...
»Na, was habe ich gesagt?« trumpfte Walter auf, »in der Mittelschublade!«
Auf ein paar sauber eingeschichteten Schnellheftern, die Dr. Gmeindls Korrespondenz mit dem Kultusministerium enthielten, lag der große rotgelbe Umschlag mit den beiden roten Siegeln. Sie starrten wie gebannt auf die schwungvoll geschriebene Adresse. Eine Handschrift wie aus einem Büro des neunzehnten Jahrhunderts, mit kunstvoll verschnörkelten Großbuchstaben.
»Licht her! Ein Zündholz! Rasierklingen«, befahl Walter.
Werner holte eine rote Weihnachtskerze und Zündhölzer aus der Brusttasche des Anoraks. Gregor legte ein paar gebrauchte Rasierklingen auf den Schreibtisch. Walter nahm den gewichtigen Umschlag aus der Schublade, untersuchte die Siegel und machte eine Klinge an der Flamme heiß. Die erhitzte Klinge drang beim ersten Versuch nur wenige Millimeter in das Siegel ein. Es war eine Arbeit, die Genauigkeit bei der Führung der Klinge erforderte. Walter hatte an alles gedacht, er arbeitete, um sich die Finger nicht zu verbrennen, mit einem Handschuh.
»Mach doch schneller, Mensch«, keuchte Gregor.
»Immer mit der Ruhe«, knurrte Walter ohne aufzuschauen, »wir dürfen nichts überhudeln, und außerdem haben wir massenhaft Zeit. Wie spät ist's?«
»Zwanzig nach zehn«, flüsterte Werner mit enger Kehle.
»Macht euch bloß nicht in die Hosen, wir haben noch gut eineinhalb Stunden Zeit.« Er wischte sich mit dem Ärmel den Schweiß von der Stirn. Es gelang ihm nach fünf Minuten, das erste Siegel unbeschädigt abzulösen. Er legte das rote Plättchen, das etwa so groß und auch so dick wie ein altes Dreimarkstück war, vorsichtig auf die Schreibtischplatte, zu Füßen des trunkenen Silen, der die Szene grinsend beobachtete. Für das zweite Siegel brauchte Walter nur noch vier Minuten. Werner ließ das Zifferblatt seiner Uhr kaum mehr aus den Augen.
»Los, Dicker, mach schneller, ich habe ein verdammt mulmiges Gefühl im Bauch.«
»Quatsch! Was soll uns passieren?« Walter fuhr mit der stumpfen Querkante der Klinge vorsichtig in den Klebefalz des Umschlages hinein. »Manche sagen, mit Dampf ginge es besser. Es ist ein Blödsinn. Das Papier wellt sich hinterher.«
Wahrscheinlich wäre der Versuch bei dünnerem Papier schiefgegangen, aber von dem kartonartig steifen Papier hob die Klinge die Klebelasche ohne Verletzung ab. Walter zog die vier kleinen gelben Umschläge mit spitzen Fingern heraus.
»Latein — Griechisch — Deutsch — Mathematik«, er las die Prüfungsfächer von den Umschlägen ab, die Worte waren mit Blockschrift auf die Umschläge gemalt. Die Umschläge selber waren nur einmal gesiegelt, und zwar an der oberen breiten Lasche. Walter kicherte plötzlich.
»Was ist los?« fragte Gregor verblüfft.
»Mensch, die haben nur den Streifen gesiegelt, der beim Schließen des Umschlags zugeklebt wird. Aber sieh dir mal den kurzen Falz unten an! Unter hundert Umschlägen sind neunundneunzig unten schlecht verleimt. Ich habe es an Dutzenden ausprobiert. Da, schaut einmal her!« Er drückte die Spitze des kleinen Fingers leicht zwischen den ein wenig abstehenden Klebestreifen, fuhr mit der stumpfen Klingenseite
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