Gründergeschichten
Sauerstoff und Galle rein- und raustransportieren. Die große Kunst der Leberchirurgie bestehe darin,
diese Chemiefabrik bei einem Tumorbefall so wenig wie möglich zu beschädigen.
Doch die Komplexität des Organs stellt Radiologen und |141| Chirurgen vor große Probleme: Kernspin- und Computertomografen liefern ihnen zweidimensionale Bilder, die den Sitz der Tumore
zwar erkennbar machen, aber keine Auskunft über ihre Lagebeziehung zu den Gefäßsystemen ermöglichen. Für Operationen ein riesiges
Problem.
Peitgen spricht in diesem Zusammenhang von dem »methodischen Gefängnis«, in dem die bisherige Radiologie vor Beginn der digitalen
Revolution gesteckt habe. Und meint damit folgendes Dilemma: Einerseits erhebt die Radiologie ihre Bilder mit den raffiniertesten
Apparaten, die man sich vorstellen kann, zum Beispiel mit einem Computertomografen: Dabei treffen gebündelte Röntgenstrahlen
auf den Körper und werden von festerem und damit dichterem Gewebe stärker abgeschwächt als von weichem Gewebe. Das Gerät fährt
um den Körper herum, misst, wie stark der Röntgenstrahl abgeschwächt wird und errechnet daraus mit mathematischer Finesse
ein Bild. »Eine fantastische Technologie«, sagt Peitgen. Aber was macht der Radiologe mit dem Ergebnis? Er überträgt das Bild
auf einen Film, dieser wird in einen Lichtkasten geschoben »und dann sitzt dieser kluge Spezialist davor, schaut sich das
an und benutzt dafür nichts als seine Augen und seine geballte Erfahrung.« Wissenschaftsgeschichtlich betrachtet sei das eine
verrückte Entwicklung. Denn seit dem 20. Jahrhundert verdammen eigentlich sämtliche Naturwissenschaften das Bild aus ihrem
Methodenkasten. Sie sagen, wir müssen uns befreien von der Subjektivität der Beobachtung und von den Irrtümern des Auges.
Die Naturwissenschaftler trauen nur noch dem, was sie messen und in Zahlen kodieren können. »Wenn Sie heute ein Labor betreten,
ist das voller Kabel, Apparate und Messinstrumente mit irgendwelchen |142| Anzeigern und Tickern«, sagt Peitgen. Aber dann gibt es da noch eine kleine Insel namens Radiologie, die von der Bildbetrachtung
lebt. Das ist unvermeidlich in gewissem Umfang subjektiv, die Bildbetrachtung ist fehlerhaft, denn das Auge lässt sich täuschen.
»Und da kommen wir Mitte der 90er Jahre ins Spiel und sagen, die Digitalisierung bietet uns Möglichkeiten, ganz anders an
die Bilder heranzugehen. Statt sie einfach nur kontrastreicher oder besser sichtbar zu machen, könnten wir anfangen, mit der
Mathematik in die Bilder hineinzugehen, also Messungen zu machen, Zusammenhänge zu finden, die für das Auge verborgen und
unsichtbar sind. Wir durchdringen die Bilder mit Mathematik. Das war die erste Vision.«
Peitgen hatte sie 1991. Er setzte eine seiner Doktorandinnen auf das spannende Thema an. Sie beschäftigte sich mit der Fragestellung,
ob man aus dem zweidimensionalen Bild, das die Computertomografie liefert, mithilfe der fraktalen Geometrie die Strukturen
der Leber berechnen und dreidimensional sichtbar machen könnte. Daran schloss sich eine weitere Frage an: Lassen sich aufgrund
dieser Bilder womöglich bessere Strategien ableiten, wie ein Chirurg den Tumor herausschneidet, sodass das Organ noch voll
funktionstüchtig bleibt?
Hinter beiden Fragen steckte der Anspruch, die subjektive Kunst des Chirurgen auf eine objektive Basis zu stellen, sie messbar,
reproduzierbar, kontrollierbar und gleichzeitig besser zu machen. Ein frecher Anspruch.
Die Dissertation wird 1995 erfolgreich abgeschlossen und liefert vielversprechende Bilder. Manche Abbildungen der menschlichen
Organe, die Peitgen und seine Mitarbeiter berechnen, sehen aus wie moderne, abstrakte Kunst; an den |143| Wänden in der MeVis-Zentrale sind viele von ihnen ausgestellt.
Unter Medizinern spricht sich herum, dass Peitgen interessanteVorhaben verfolgt. Er erhält mehrere Aufträge von Kliniken und
erkennt schnell, dass er sich entscheiden muss: »Mache ich Projekte, weil sie mathematisch interessant sind, ich war ja Mathematiker,
oder mache ich Projekte, weil sie medizinisch bedeutungsvoll sind?« Die Frage ist grundlegend. Peitgen entscheidet sich für
die medizinische Arbeit. Zwar behält er seine Professuren in Bremen und in Florida, doch zukünftig wird die Mathematik ihm
vor allem als Instrument dienen und nicht primär Gegenstand seiner Forschung sein. Der Abschied von der reinen Wissenschaftler-Existenz
fällt ihm
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