Grüne Tomaten: Roman (German Edition)
Schuhen! So selbstgefällig, so wichtigtuerisch! Und die Schwestern umschwirrten ihn wie Geishas. Dabei war er nicht einmal der Arzt ihrer Mutter. Den vertrat er nur bei jener Morgenvisite. Evelyn stand neben dem Bett und hielt die Hand der Patientin. Als er eintrat, fand er es offenbar überflüssig, sich vorzustellen.
»Hallo, Doktor«, sagte sie, »ich bin ihre Tochter, Evelyn Couch.«
Ohne den Blick vom Krankenblatt abzuwenden, erklärte er mit lauter Stimme: »Der Lungenkrebs Ihrer Mutter befindet sich im fortgeschrittenen Stadium. Die Metastasen haben bereits die Leber, die Bauchspeicheldrüse und die Milz befallen. Gewisse Anzeichen weisen auch auf ein Eindringen ins Knochenmark hin.«
Bisher hatte ihre Mutter nichts von ihrer Krebserkrankung gewusst. Weil sie so ängstlich war, wollte Evelyn es ihr verheimlichen. Bis an ihr Lebensende würde sie sich an das entsetzte Gesicht der armen Frau erinnern. Und dieser Arzt ging einfach mit seinem Gefolge den Korridor hinab.
Am nächsten Tag versank die Mutter im Koma.
Nie würde Evelyn den grauen, sterilen Warteraum der Intensivstation mit den Betonwänden vergessen, wo sie all die Wochen verbracht hatte, beklommen und verwirrt wie die anderen, die hier ausharrten. Alle wussten, dass ihre Lieben nur wenige Schritte entfernt in kalten, sonnenlosen Räumen lagen und dem Tod entgegenblickten.
Einander völlig fremd, saßen sie in dem kleinen Zimmer und teilten die vermutlich intimsten, schmerzlichsten Momente ihres Lebens. Sie wussten nicht so recht, was sie tun oder sagen sollten. Niemand war auf diese Qual vorbereitet gewesen. Die bedauernswerten Leute, so angstvoll wie Evelyn, versuchten tapfer zu sein, schwatzten über ihren Alltag und gaben vor, alles wäre in Ordnung, obwohl sie unter einem Schock standen.
Eine Familie war besonders verzweifelt und konnte nicht akzeptieren, dass die Sterbende weiter unten am Korridor die Mutter war. Diese Menschen sprachen nur von »unserer Patientin« und fragten Evelyn, wie es »ihrer Patientin« gehe. Die Wahrheit sollte möglichst verdrängt, der Kummer gelindert werden.
Jeden Tag warteten sie gemeinsam und wussten, der Augenblick würde kommen, der schreckliche Augenblick, wo man von ihnen verlangen würde zu »entscheiden«, ob die lebenserhaltenden Geräte abgeschaltet werden sollten …
»Es wäre am besten.«
»Dann hätten sie ihren Frieden.«
»Das würden sie selber wünschen.«
»Der Doktor sagt, sie seien bereits hinüber.«
»Das ist nur eine technische Frage.«
Eine technische Frage?
All diese ruhigen, vernünftigen Diskussionen. Dabei wollte Evelyn nur nach ihrer Momma rufen, nach ihrer süßen Momma, der einzigen Person auf dieser Welt, die sie mehr liebte als jeder andere.
An jenem Samstag schaute der Doktor ins Wartezimmer. Alle Augenpaare richteten sich auf ihn. »Mrs. Couch, würden Sie mich bitte in mein Büro begleiten?«
Ihr Herz schlug wie rasend. Mit zitternder Hand ergriff sie ihre Handtasche. Die anderen sahen sie mitfühlend an, eine Frau berührte sie am Arm. Aber insgeheim atmeten alle auf, weil sie noch nicht an die Reihe kamen.
Sie glaubte zu träumen. Aufmerksam lauschte sie dem Arzt. Er drückte sich ganz einfach und natürlich aus. »Es hätte keinen Sinn mehr, ihr Leben zu verlängern …«
Ja, das verstand sie. Wie ein Zombie erhob sie sich und ging nach Hause. Sie dachte, sie wäre bereit, die Tatsachen zu akzeptieren, den endgültigen Abschied von der Mutter.
Aber keiner war wirklich bereit, dem Arzt zu sagen, die Geräte sollten abgeschaltet werden, was immer er auch vermuten mochte, das Licht der Kindheit zu löschen, und davonzugehen, so als würde man nur eine Lampe ausknipsen und ein Zimmer verlassen.
Nie würde sie sich verzeihen, dass sie nicht den Mut aufgebracht hatte, ins Krankenhaus zurückzukehren und bei der Mutter zu sitzen. Wegen dieser Gewissensbisse wachte sie in manchen Nächten immer noch weinend auf. Das konnte sie niemals wiedergutmachen.
Diese Tortur hatte vielleicht Evelyns Angst vor Ärzten und Kliniken geweckt. Sie wusste es nicht. Beim Gedanken, einen Arzt aufzusuchen, brach ihr kalter Schweiß aus, und sie begann am ganzen Körper zu beben. Allein schon das Wort »Krebs« überzog sie mit einer Gänsehaut. Sie hatte aufgehört, ihre Brüste abzutasten, denn einmal hatte sie einen Knoten gespürt und wäre fast in Ohnmacht gefallen. Der Knoten hatte sich als zusammengeknülltes Papiertaschentuch entpuppt, das in der Waschmaschine im BH
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