Grüne Tomaten: Roman (German Edition)
hängengeblieben war. Natürlich wusste sie, wie unvernünftig ihre Furcht war und dass sie zur Vorsorgeuntersuchung gehen müsste. Die Ärzte empfahlen den Frauen, das jedes Jahr zu tun. Und Evelyn ermahnte sich, den Check ihren Kindern zuliebe zu ertragen, wenn schon nicht zu ihrem eigenen Wohl. Aber das machte keinen Unterschied. In mehreren tapferen Anwandlungen ließ sie sich Termine beim Arzt geben, aber sie sagte alle in letzter Minute ab.
Vor sechs Jahren war sie einmal beim Arzt gewesen, wegen einer Blaseninfektion. Sie hatte ihn am Telefon gebeten, ihr irgendwelche Antibiotika zu verschreiben. Aber er beorderte sie in die Praxis. Und da lag sie auf dem grässlichen Stuhl, die Füße in den Steigbügeln. Gab es etwas Schlimmeres? Zu spüren, wie ein fremder Mann in einen hineingriff und nach Dingen suchte, als wäre man ein Glücksbeutel voller interessanter Überraschungen …
Der Doktor fragte nach ihrer letzten Brustuntersuchung. »Vor drei Monaten«, log sie.
»Nun, da Sie schon mal da sind, machen wir gleich noch eine.«
Unentwegt redete sie, um ihn abzulenken, aber er unterbrach sie. »Hm – das fühlt sich gar nicht gut an.«
Das Warten auf die Röntgenaufnahmen der Mammografie war unerträglich. Sie ging umher wie in einem alptraumhaften Nebel, betete und feilschte mit Gott, obwohl sie nicht einmal wusste, ob sie an seine Existenz glaubte. Immer wieder versprach sie, nie mehr über irgendetwas zu klagen, wenn Er ihr eine Krebserkrankung ersparte. Zufrieden würde sie den Rest ihrer Tage verbringen, glücklich sein, weil sie noch lebte, den Armen Wohltaten erweisen und jeden Morgen in die Kirche zu gehen.
Aber nachdem sie erfahren hatte, sie sei gesund und müsse vorerst nicht sterben, verfiel sie wieder in die alten Gewohnheiten. Aber nach diesem Schrecken war sie überzeugt, jeder geringfügige Schmerz müsste eine Krebserkrankung bedeuten, was eine ärztliche Untersuchung bestätigen würde. Schlimmer noch, wenn der Doktor mit seinem Stethoskop ihre Brust abhorchte, würde er sie blitzschnell in die Klinik einliefern und eine Operation am offenen Herzen veranlassen, ehe sie fliehen konnte. Sie begann mit einem Fuß im Grab zu stehen. Wenn sie ihre Handflächen betrachtete, bildete sie sich ein, ihre Lebenslinie würde immer kürzer.
Jedenfalls würde sie es nicht mehr verkraften, auf die Resultate irgendwelcher Tests zu warten. Wenn ihr irgendetwas fehlte, wollte sie es gar nicht wissen. Sie zog es vor, einfach tot umzufallen, ohne vorher über ihr Leiden informiert zu werden.
Während sie jetzt mit Ed zum Pflegeheim fuhr, erkannte sie, welch ein unerträgliches Leben sie führte. Jeden Morgen trieb sie Spiele mit sich selbst, nur um den Tag zu überstehen. Zum Beispiel redete sie sich ein, heute würde etwas Wundervolles geschehen – wenn das Telefon das nächste Mal läutete, würden gute Neuigkeiten ihr Dasein verändern – oder eine angenehme Überraschung würde im Postkasten warten. Aber sie bekam nur Werbesendungen, jemand wählte die falsche Nummer, oder eine Nachbarin wollte irgendwas von ihr.
Die stille Hysterie und die grausige Verzweiflung hatten begonnen, als ihr endlich bewusst geworden war, dass sich nichts ändern und niemand kommen würde, um sie zu entführen. Sie fühlte sich, als säße sie am Boden eines Brunnens, und niemand könnte ihre Hilferufe hören.
Eine unaufhörliche Folge langer, schwarzer Nächte und grauer Morgenstunden zwang sie, der Tatsache ihres Versagens ins Auge zu blicken. Und die Angst überrollte sie wie eine tonnenschwere Woge. Den Tod fürchtete sie nicht mehr. In diese dunkle Grube hatte sie schon zu oft geschaut und hineinspringen wollen. Allmählich fand sie Gefallen an diesem Gedanken.
Sie wusste sogar, wie sie sich umbringen wollte. Mit einer silbernen Kugel, rund und glatt wie ein kalter blauer Martini. Ein paar Stunden davor würde sie den Revolver in den Kühlschrank legen, dann würde er sich wie Eis auf ihrer Stirn anfühlen. Sie glaubte bereits zu spüren, wie die eisige Kugel in ihr heißes, kummervolles Gehirn drang und den Schmerz für immer gefror. Der Krach des Schusses würde das letzte sein, was sie in dieser Welt hörte. Und dann – nichts. Vielleicht nur das stumme Geräusch, das ein Vogel vernimmt, wenn er durch klare, reine Luft fliegt, hoch über der Erde. Die süße, saubere Luft der Freiheit …
Nein, den Tod fürchtete sie nicht. Es war dieses Leben, das sie viel zu deutlich an jenes graue Wartezimmer in der
Weitere Kostenlose Bücher