Grüne Tomaten: Roman (German Edition)
Hund heraus und wedelte wie verrückt mit dem Schwanz.
Nun ging Idgie die Veranda entlang und rief: »Los, Lady! Mach schon, Mädchen!« Dabei warf sie den Ball in die Luft. Der kleine weiße Terrier sprang mindestens anderthalb Meter hoch, fing den Ball und brachte ihn zu Idgie, die ihn gegen die Hauswand schleuderte. Wieder schnellte Lady empor und fing ihn. Und da merkte Stump, dass der kleine Hund nur drei Beine hatte.
Etwa zehn Minuten lang rannte und sprang Lady hinter dem Ball her. Niemals geriet sie aus dem Gleichgewicht. Schließlich führte Idgie sie ins Haus zurück und verabschiedete sich von der rothaarigen Frau. Sie setzte sich ans Steuer und fuhr eine kleine Straße hinab und parkte am Fluss. »Ich will dich was fragen, Stump, mein Sohn.«
»Ja, Ma’am.«
»Hat der Hund vergnügt ausgesehen?«
»Ja, Ma’am.«
»Hat er so ausgesehen, als würde er gern leben?«
»Ja.«
»Hat er so ausgesehen, als würde er sich selber leid tun?«
»Nein, Ma’am.«
»Also, du bist mein Sohn, und ich liebe dich, was immer auch passieren mag. Das weißt du doch?«
»Ja, Ma’am.«
»Aber es würde mich schrecklich ärgern, wenn du nicht noch ein bisschen mehr Verstand hättest als dieser arme, kleine, dumme Hund.«
Stump senkte den Kopf. »Ja, Ma’am.«
»Also will ich nichts mehr drüber hören, was du kannst und was du nicht kannst – okay?«
»Okay.«
Idgie öffnete das Handschuhfach und zog eine Flasche Green River Whiskey heraus. »Außerdem – dein Onkel Julian und ich nehmen dich nächste Woche mit und bringen dir bei, wie man mit einer richtigen Waffe schießt.«
»Wirklich?«
»Wirklich!« Idgie schraubte den Flaschenverschluss ab und nahm einen Schluck. Wir machen aus dir den besten gottverdammten Schützen vom ganzen Staat, und die anderen sollen bloß noch mal versuchen, dich bei irgendwas zu besiegen … Da, trink auch was.«
Stumpfs Augen wurden groß und rund, als er nach der Flasche griff. »Wirklich?«
»Ja, wirklich. Aber erzähl’s deiner Mutter nicht. Diese Jungs werden sich noch wünschen, sie wären heute Morgen nicht aufgestanden.«
Stump nippte an der Flasche und versuchte so zu tun, als würde der Whiskey nicht wie Benzin schmecken. Dann fragte er: »Wer ist diese Frau?«
»Eine Freundin.«
»Du warst schon mal hier, nicht wahr?«
»Ja, ein paarmal. Aber sag’s deiner Mutter nicht.«
»Okay.«
B IRMINGHAM , A LABAMA
(S LAGTOWN )
30. Dezember 1934
Immer wieder hatte Onzell ihrem Sohn eingeredet, er solle nicht nach Birmingham gehen. Aber an diesem Abend fuhr er hin.
Gegen acht Uhr sprang er aus dem Frachtzug, der in der L & N-Station hielt. Und als er das Bahnhofsgebäude betrat, riss er den Mund auf.
Die Station erschien ihm so groß wie Whistle Stop und Troutville zusammen. Da gab es viele Reihen breiter Mahagonibänke, bunte Fliesen bedeckten den Boden und die Wände. Und die unzähligen Schilder … »Schuhputzer«, »Sandwiches«, »Zigarren«, »Friseursalon«, »Zeitungen und Zeitschriften«, »Süßwaren«, »Zigaretten«, »Whiskey-Bar«, »Café«, »Buchhandlung«, »Lassen Sie Ihren Anzug bügeln«, »Geschenke«, »Eisgekühlte Drinks«, »Eiscreme« …
Das war eine richtige Stadt. Hier wimmelte es von Gepäckträgern und Fahrgästen, alle unter einer über zwanzig Meter hohen Glasdecke. Zu viel für einen siebzehnjährigen Schwarzen im Arbeitsoverall, der Whistle Stop nie zuvor verlassen hatte … In diesem einen Gebäude glaubte er die ganze Welt zu sehen. Wie betäubt taumelte er durch den Vordereingang hinaus.
Und da entdeckte er das größte elektrische Leuchtschild auf Erden – zwanzig Stockwerke hoch, mit zehntausend goldenen Glühbirnen, die vor dem schwarzen Himmel funkelten – »Willkommen in Birmingham, der magischen Stadt«.
Und sie war tatsächlich magisch. »Die Südstaatenstadt, die am schnellsten wächst« – so wurde sie bezeichnet, und Pittsburgh nannte man bereits das »Birmingham des Nordens«. Birmingham mit den hoch aufragenden Wolkenkratzern, den Stahlfabriken, die den Himmel rot und violett erhellten, den belebten Straßen, wo viele hundert Autos und die Straßenbahnen hin und her fuhren, Tag und Nacht …
Wie in Trance wanderte Artis die Straße hinab, vorbei am St. Clair (Birminghams modernstem Hotel), am L & N Café und dem Terminal Hotel. Als er durch die Rillen der Jalousie ins Café spähte, sah er lauter Weiße darin sitzen, die ihre Drinks genossen, und da wusste er, dass das kein Lokal für ihn war. Er ging
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