Grüne Tomaten: Roman (German Edition)
Junge. Auf dieser Erde gibt es großartige Geschöpfe, die laufen herum und posieren als Menschen. Und ich will, dass du das niemals vergisst – verstanden?«
Ernsthaft schaute er sie an. »Nein, Tante Idgie, ich werde es nie vergessen.«
Während sie die Schienen entlanggingen, flatterte ein hellroter Kardinalvogel aus einem schneebedeckten Baum und trat seinen Weihnachtsflug zum weißen Horizont an.
P FLEGEHEIM R OSE T ERRACE
O LD M ONTGOMERY H IGHWAY , B IRMINGHAM , A LABAMA
9. März 1986
Während jener endlos langen schwarzen Nächte war Evelyn – hellwach und schweißüberströmt in ihrer Angst vor dem Tod und der Intensivstation und wachsenden Tumoren – oft versucht gewesen, Ed um Hilfe zu bitten, der neben ihr geschlafen hatte. Doch sie lag einfach nur im dunklen Abgrund ihrer persönlichen Hölle und wartete auf den Morgen.
Um ihre Gedanken von jenem eiskalten Revolver an ihrer Stirn abzulenken, zwang sie sich später, in ihrer Fantasie Mrs. Threadgoodes Stimme zu hören. Wenn sie tief Atem holte und sich konzentrierte, befand sie sich bald in Whistle Stop. Sie wanderte die Straße hinab, ging in Opals Friseursalon und spürte tatsächlich, wie ihr Haar mit warmem Wasser gewaschen wurde. Dann kühlte es ab. Mit der neuen Frisur besuchte sie Dot Weems im Postamt, dann betrat sie das Café, wo sie alle deutlich vor sich sah – Stump und Ruth und Idgie. Sie bestellte den Lunch, und Wilbur Weems und Grady Kilgore winkten ihr zu. Sipsey und Onzell lächelten sie an, aus der Küche drang Radiomusik. Alle fragten, wie sie sich fühle. Unentwegt strahlte die Sonne, und es würde immer ein Morgen geben … In letzter Zeit schlief sie besser und dachte kaum noch an den Revolver.
Als sie an diesem Morgen erwachte, merkte sie, dass sie sich tatsächlich auf den Besuch im Pflegeheim freute. Die Stunden im Salon, wo sie seit Wochen immer wieder die Geschichten über das Café und Whistle Stop hörte, erschienen ihr realer als ihr eigenes Leben mit Ed.
Bei Evelyns Ankunft war ihre Freundin wie immer in guter Stimmung und entzückt über den Hershey-Schokoladenriegel ohne Mandeln, die Erfüllung eines besonderen Wunsches. Nachdem sie ihn zur Hälfte verzehrt hatte, erinnerte sie sich an einen Landstreicher, den sie einmal gekannt hatte.
»Großer Gott, was mag wohl aus Smokey Lonesome geworden sein? Ich habe keine Ahnung, wo er jetzt steckt. Wahrscheinlich ist er tot. Oh, ich weiß noch ganz genau, wie das war, als er zum ersten Mal ins Café kam. Ich aß gerade gebratene grüne Tomaten, und da klopfte er an die Hintertür und wollte was zu essen. Idgie ging in die Küche und führte den armen Kerl ins Lokal. Er war ganz schmutzig von seiner Wanderschaft und den langen Fahrten in den Frachtwaggons. Sie schickte ihn auf die Toilette und sagte, er solle sich waschen, danach würde sie ihm was zu essen geben. Dann füllte sie einen Teller für ihn und meinte, das sei der einsamste Typ, den sie je gesehen habe. Eigentlich hieß er Smokey Phillips, aber sie nannte ihn Smokey Lonesome. Und später rief sie, wann immer er die Straße herabtrottete: ›Da kommt der alte Smokey Lonesome!‹
Der Ärmste … Ich glaube, er hatte keine Familie. Idgie und Ruth tat er sehr leid, weil er halb tot war, und sie ließen ihn in dem alten Schuppen hinter dem Café schlafen. Ab und zu packte ihn wieder die Wanderlust, zwei- oder dreimal im Jahr, und da zog er davon. Aber früher oder später kam er zurück, meistens sternhagelvoll und völlig entkräftet, und blieb wieder für eine Weile im Schuppen. Nie in seinem ganzen Leben besaß er irgendwas – nur ein Messer, eine Gabel und einen Löffel. Dieses Besteck trug er in seiner Jackentasche bei sich, und im Hutband steckte ein Dosenöffner. Er erklärte, er wolle sich mit nichts belasten. Vermutlich war der Schuppen hinter dem Café das einzige Heim, das er jemals kannte. Ohne Ruth und Idgie wäre er sicher verhungert.
Ich glaube, er kam vor allem deshalb immer wieder, weil er in Ruth verliebt war. Das sagte er zwar nie, aber man merkte es an der Art, wie er sie ansah.
Wissen Sie, ich bin dankbar, dass mein Cleo zuerst gestorben ist. Offenbar kann ein Mann nicht ohne Frau leben. Aus diesem Grund sterben die meisten, kurz nachdem sie ihre Frauen verloren haben. Sie finden sich einfach nicht mehr zurecht. Es ist ein Jammer … Zum Beispiel der alte Dunaway hier im Heim. Seine Frau lag noch keinen Monat unter der Erde, als er anfing, den Frauen nachzustellen. Deshalb gibt man ihm
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