Gruenkohl und Curry
dürrer, schwächlicher Typ ohne ausgeprägte Muskulatur zu sein, sondern ein Kraftprotz wie der Boxchampion Rocky Balboa, den alle Jungen in meiner Klasse wie einen Heiligen verehrten. Aber das Schicksal wollte es anders: Ich war schwach und ein miserabler Sportler dazu. Wir Südasiaten sind da, glaube ich, genetisch benachteiligt. Ich zählte jedenfalls zu denjenigen, die als Letzte in eine Fußballmannschaft gewählt wurden.
Wir hatten eine junge Klassenlehrerin, Rosemarie Ferch, die wir mit »Frau Ferch« anredeten, aber duzten. Frau Ferch besaß einen Dackel, von dem sie uns regelmäßig Geschichten erzählte. In unserer Vorstellung sah ihr Hund so aus wie Charlie Browns Snoopy. Sie hätte uns auch von ihrem Garten oder ihrem Haus erzählen können – wir hätten es spannend gefunden. Sie fuhr einen mintgrünen Audi, über dessen Lenkrad sie nur mit Mühe schauen konnte, weil sie so tief in dem Sitz saß beziehungsweise weil sie so klein war. Alle Jungen in der Klasse wussten mehr über die Vorzüge und technischen Problembereiche dieses Autos als Frau Ferch selbst. Wir alle liebten sie.
Am Tag meiner Prügelei betrat Frau Ferch den Klassenraum, als ich auf dem Boden lag und mich längst ergeben hatte. Der Dicke saß noch auf mir und genoss seinen Triumph. Ein paar Mädchen hatten sich zu meiner Schande um uns herumgruppiert und himmelten den Sieger an. Frau Ferch zerrte den Jungen von mir runter, sie kannte ihn als Raufbold und ich freute mich, dass er nun ein Problem hatte.
Offenbar redete sie ihm ins Gewissen, denn am nächsten Tag entschuldigte er sich bei mir auf seine Weise: Er schenkte mir wortlos sein Feuerzeug, das er seit Tagen heimlich mit zur Schule brachte und um das ihn alle Jungen beneideten.
In der Grundschule lernte ich, pragmatisch zu sein. Ich erkannte, dass ich alleine nicht stark genug war, um mich gegen Angriffe zu wehren. Deshalb gründete ich eine Bande: Michael, der künftige Olympiasportler, war damals schon unglaublich kräftig, er wurde mein Beschützer und erledigte die Prügelarbeiten. Mit Thomas teilte ich eine Leidenschaft für Autos, Flugzeuge und Schiffe, er war immer für rasante Verfolgungsjagden auf dem Fahrrad zu haben. Sabine nahmen wir ebenfalls auf, schließlich haben alle Banden ein Mädchen dabei, so wie TKKG. Meine Aufgabe bestand darin, die Abenteuergeschichten auszudenken, die wir dann gemeinsam erlebten, und die anderen gelegentlich bei Hausaufgaben und Tests abschreiben zu lassen. Sabine verzichtete immer demonstrativ darauf, um mir zu zeigen, dass sie es nicht nötig hatte. Meiner Meinung nach war ich der Chef der Bande, aber ich glaube, die anderen haben das nie so gesehen.
Eines Tages kam Malcolm in unsere Klasse. Malcolm war neu nach Hollern gezogen. Seine Mutter war Deutsche, sein Vater Afrikaner oder Afro-Amerikaner, so genau wusste ich das nicht, jedenfalls war Malcolm etwas dunkler als ich und hatte schwarzes, krauses Haar. Malcolm und ich wurden Freunde und standen uns immer zur Seite, wenn uns jemand wegen unserer Hautfarbe beleidigte. Das kam immer nur dann vor, wenn wegen irgendeiner anderen Sache ein Streit entbrannt war und der gegnerischen Partei kein anderes Argument mehr einfiel als »Neger« oder »Kanaken«. Das waren die Momente, in denen wir dem einen oder anderen gerne eine Tracht Prügel verpasst hätten, aber leider war Malcolm auch nicht gerade kräftig. Ich riet ihm deshalb, sich in Fragen der gewaltsamen, aber effektiven Konfliktlösung an Michael zu halten. Ohne Michael wären wir bestimmt regelmäßig verprügelt worden. Nach nur ein paar Monaten zog Malcolm wieder weg. Wohin und warum, habe ich nie erfahren.
Kinder sind so: Sie identifizieren eine Schwäche – oder eine vermeintliche Schwäche – und hauen drauf. Das kann das Körpergewicht sein, ein Sprachfehler oder eben die Hautfarbe. Dort, wo es viele ausländische Kinder gibt, kann sich die Situation umkehren: Plötzlich ist da eine Gruppe stark genug, sich zu wehren und sogar die anderen zu dominieren. Aber unabhängig davon, wer das Sagen hat: Die körperlich Schwachen müssen mehr einstecken als die Starken. Solange die Schwachen geschützt und gestärkt werden, ist das erträglich. An meiner Grundschule, an der Malcolm und ich die einzigen Nichtweißen waren, ist das alles in allem ganz gut gelungen.
Eine Sozialarbeiterin vom Kreisjugendamt Stade schrieb Anfang 1982 auf Anregung von Gisela Laurich ein Gutachten über meine Schwester und mich, um es der
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