Gruenkohl und Curry
auch jüdische beschnitten sind. Merkwürdige Vorstellung: Muslime und Juden sehen sich oft als Feinde, aber splitternackt lässt sich ein jüdischer Mann von einem muslimischen nicht unterscheiden. Selbst auf viele meiner mehr oder weniger christlichen Freunde trifft zu, dass sie beschnitten sind. Aus medizinischen Gründen eben.
Meine Eltern hatten andere Sorgen als meine Schmerzen und meine Demütigung. Sie mussten sich auf die Gerichtsverhandlungen vorbereiten, die über unsere Zukunft entscheiden sollten.
Gisela Laurich hatte Petitionen an den Bundestag in Bonn und an den niedersächsischen Landtag in Hannover geschrieben. Jedes Mal verwies man sie an den Landkreis Stade – der sei dafür zuständig.
Aber der wollte uns ja nicht.
Wir waren ratlos. Gisela und weitere Freunde liefen im Januar 1982 in der Nachbarschaft von Haus zu Haus und sammelten Unterschriften. Gut hundert Namen kamen dabei zusammen. Anschließend schrieb Gisela einen Brief an den Landkreis Stade und schickte ihn, damit er nicht ignoriert wurde, in Kopie an die Bezirksregierung in Lüneburg, an das Stader Verwaltungsgericht, das sich gerade mit der Klage meiner Eltern befasste, und an das niedersächsische Innenministerium:
Sehr viele Bürger der Gemeinde Hollern haben sich bereit gefunden, sich für einen Verbleib der Familie Kazim in der Bundesrepublik Deutschland voll einzusetzen. Die Familie Kazim wohnt seit 1975 in der Gemeinde Hollern. Sie hat sich hier voll und ganz eingelebt. Die Eheleute Kazim mit ihren Kindern werden hier keinesfalls als »Fremde« empfunden. Viele Bürger der Gemeinde Hollern halten es für unzumutbar und jedem gesunden Menschenverstand widersprechend, daß Herr Kazim, der sich mit kurzen Unterbrechungen seit 1962 in der Bundesrepublik aufhält, hier auch aufgrund seiner Ausbildung die Möglichkeit hat, eine Tätigkeit auszuüben, nach so langer Zeit ›abgeschoben‹ werden soll.
Herr Kazim (...) lebt seit seinem 20. Lebensjahr fast ununterbrochen in der Bundesrepublik Deutschland. Es ist kaum vorstellbar, daß er nach so langer Zeit in seinem Heimatland Pakistan wieder Fuß fassen kann.
Wir meinen, daß durch eine Abschiebung der Familie Kazim diese in Verhältnisse geraten wird, die die Existenz dieser Familie aufs äußerste bedrohen können.
Anliegend übersende ich eine Ablichtung der Unterschriftenliste. Ich bitte sehr herzlich darum, bei allen Überlegungen hinsichtlich dieses ›Falles‹ auch die menschliche Seite nicht zu vergessen. Wenn hier nur nach §§ oder Bestimmungen entschieden werden soll, steht ohne Übertreibung das Leben und die Existenz dieser Familie auf dem Spiel.
Der Beamte mit dem Schnurrbart antwortete ihr vier Wochen später:
Sehr geehrte Frau Laurich!
Für das Engagement vieler Hollerner Bürger für die Familie Kazim darf ich mich bedanken. Zur Sache selbst kann ich Ihnen
mitteilen, daß die Kreisverwaltung Herrn Kazim bereits bei der Aufenthaltserlaubniserteilung zu Ausbildungszwecken durch großzügige Auslegung der ausländerrechtlichen Bestimmungen entgegengekommen ist. Darüber hinaus wurde die Einreise Frau Kazims zu einem Besuchsaufenthalt unter Zurückstellung ausländerrechtlicher Bedenken aus humanitären Gründen gestattet. Der Landkreis als Ausländerbehörde ist stets bemüht, die menschlichen Aspekte eines Falles zu berücksichtigen. Er ist jedoch an ausländerrechtliche Weisungen gebunden, wenn die Grenzen seines eigenen Ermessensspielraums erreicht sind.
Im vorliegenden Fall ist mir im Rahmen der geltenden ausländerrechtlichen Bestimmungen eine weitere Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis nicht mehr möglich. Die endgültige Entscheidung in dieser Frage liegt jetzt bei den zuständigen Gerichten. Ich darf Ihnen versichern, daß ich weiterhin bemüht sein werde, der Familie Kazim im Rahmen der gesetzlichen Möglichkeiten entgegenzukommen. Angesichts der derzeit noch bestehenden Nichtreisefähigkeit des Kindes Zahra gehe ich davon aus, daß der Aufenthalt der Familie Kazim zumindest bis zu einer Entscheidung des Verwaltungsgerichts Stade ermöglicht werden kann.
Die Gerichtsprozesse waren allesamt ernüchternd. Meine Eltern verloren ab März 1982 jeden Rechtsstreit gegen den Landkreis Stade. Jedes Mal entschieden die Richter, dass die Ausländerbehörde den Gesetzen und Vorschriften entsprechend gehandelt hatte.
Wir blieben auf unabsehbare Zeit nur geduldete Ausländer, die alle paar Monate um eine Verlängerung der Duldung bitten mussten. Dass mein
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