Gruenkohl und Curry
genau. Jedenfalls gab es diese Unterstützung nur für sozial schwache Familien.
»Wer braucht so einen Gutschein?«, fragte Frau Ferch die Klasse und wedelte mit einem Stapel Papier.
Niemand meldete sich.
Meine Ohren glühten plötzlich. Meine Eltern hatten mir gesagt, dass ich einen Gutschein aus der Schule mitbringen soll. Sie hatten mir nicht erklärt, dass es ihn nur für Eltern mit wenig Geld gibt, auch Frau Ferch sagte jetzt nicht, für wen diese Gutscheine eigentlich gedacht waren, aber ich hatte das irgendwo aufgeschnappt.
Sollte ich mich jetzt melden?
»Niemand?«, hakte Frau Ferch nach.
Wir brauchten doch so einen Schein! Was, wenn ich jetzt keinen bekam, weil ich mich nicht traute, etwas zu sagen? Könnte ich später zu Frau Ferch gehen und doch um einen bitten? Aber das wäre ja noch peinlicher.
Zögerlich meldete ich mich. Frau Ferch kam zu mir, legte einen Gutschein auf meinen Tisch und ging wieder an ihr Pult.
»Noch jemand?«
Es meldeten sich vier, fünf weitere Schüler.
Ich glaube, keinem meiner Freunde war bewusst, dass wir wenig Geld hatten. Ich erzählte niemandem von den Schwierigkeiten, die meine Eltern mit den Behörden hatten – ich bekam sie ja selbst nur bruchstückhaft mit. Ich wusste, dass es Probleme gab, dass meine Eltern oft besorgt waren, dass sie manchmal nächtelang mit Freunden diskutierten, wie es weitergehen solle. Aber kaum war ich auf dem Schulhof oder spielte mit Freunden in der Vorderstraße, waren für mich diese Probleme vergessen.
»Die wollen euch zermürben«, sagten die Freunde meiner Eltern.
»Niemals werden sie das schaffen«, antwortete meine Mutter. »Niemals.« Es war ihr unbedingter Wille, in Hollern zu bleiben, ihr Stolz, der sie das sagen ließ.
Ob sie sich selbst geglaubt hat? Sie ist eine starke Person. Aber ob sie immer stark genug war, um diesen Druck auszuhalten, ob sie nicht manchmal doch kurz vor dem Zusammenbruch stand – ich weiß es nicht. Wenn, dann hat sie es verdrängt. Auf meine Frage, ob sie mal daran gedacht hat aufzugeben, sagt sie: »Doch, ja. Manchmal habe ich überlegt, in die USA zu gehen, wo inzwischen fast alle meine Geschwister lebten. Aber dann wollte ich doch in Hollern bleiben, weil ich dachte: Ich habe genauso ein Recht, in diesem Teil der Erde zu leben, wie jeder andere! Oft habe ich auch meine Familie und meine Freunde in Karatschi vermisst. Aber dorthin zurück wollte ich auf gar keinen Fall.«
Ich glaube, wenn es nach meinem Vater gegangen wäre, hätten wir uns längst anderswo in der Welt eine neue Heimat gesucht. Aus heutiger Sicht könnte ich das verstehen.
Die Urteilsbegründungen der Richter des Verwaltungsgerichts Stade und später des Niedersächsischen Oberverwaltungsgerichts in Lüneburg, im Dezember 1983, waren entmutigend. Die juristischen Ausführungen boten meinen Eltern kaum Hoffnung auf einen guten Ausgang.
Ein gewisser Lichtblick war, was die Lüneburger Richter zur Argumentation der Ausländerbehörde zu sagen hatten, mein Vater müsse aus entwicklungspolitischen Gründen zurück nach Pakistan:
»Das entwicklungspolitische Interesse der Bundesrepublik Deutschland ist nicht gewichtig genug, um die Ablehnung einer weiteren Aufenthaltserlaubnis selbständig zu rechtfertigen. Den entwicklungspolitischen Belangen widerstreiten hier die Interessen der deutschen Handelsschiffahrt an der Gewinnung qualifizierten Personals und der in dem Rechtsstaatsprinzip verwurzelte Verhältnismäßigkeitsgrundsatz.«
Weiter hieß es aber:
»Der Beklagte
[der Landkreis Stade, vertreten durch den Oberkreisdirektor]
hat aber die weitere Aufenthaltserlaubnis aus Ermessensgründen ablehnen können. (...) Beiden Klägern
[meiner Mutter und meinem Vater]
ist der Aufenthalt im Inlande nur für einen seiner Natur nach vorübergehenden Zweck erlaubt worden.«
Damit zielten die Richter auf die Ausbildung meines Vaters zum Kapitän ab.
»Die anschließenden mehrfachen Verlängerungen der Aufenthaltserlaubnis beider Kläger folgten aus humanitären Gründen, da durch ärztliche Bescheinigungen die Reiseunfähigkeit entweder der Klägerin oder des neugeborenen Kindes Zahra Kazim belegt worden war. (...) Die vorübergehenden Aufenthaltszwecke sind inzwischen weggefallen.«
Lediglich die
»mangelnde Reisefähigkeit der Tochter«
sei noch gegeben, aber dem sei
»hinreichend dadurch Rechnung getragen, daß die Abschiebung der gesamten
Familie bis zu diesem Zeitpunkt
[der Wiederherstellung der Reisefähigkeit]
ausgesetzt worden
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